Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Nach dem Schock

Britische Unternehmer wissen nicht, welche Folgen der Brexit haben wird, im Zweifel keine guten. Die Manager versuchen, daraus das Beste zu machen, so wie der hippe Klapprad-Hersteller Brompton.

Von Björn Finke

Es ist kühl in der Halle, ein Eindruck, den das kalte Licht der Deckenlampen verstärkt. In der Luft liegen der metallische Geruch des Lötens und ein stetes Klappern, Zischen, Brummen. In der einen Ecke der fußballfeldgroßen Fabrik sind Kisten in Hochregalen bis an die Decke gestapelt. Daneben löten Mitarbeiter Teile, und auf zwei Fertigungsstraßen werden Rollbretter von Station zu Station geschoben. Auf den Brettern sind an Gestellen Fahrradrahmen befestigt. Bei einer Station bringt ein Monteur gerade Pedale und Zahnkranz an einem weißen Rahmen an. Nach zwölf Stationen - und nur dreieinhalb Minuten - ist auf dem Rollbrett ein komplettes Fahrrad zu bewundern. Kein gewöhnliches, sondern ein Klapprad.

Denn in dem Werk im Westen Londons produziert Brompton Bicycle ebenso teure wie angesagte Falträder. Das Unternehmen, einer der wenigen Industriebetriebe der Hauptstadt, zog im Februar aus seiner alten, kleineren Fabrik in diese moderne Halle, einen grauen Quader in einem grauen Gewerbegebiet. Die Halle ist groß genug, um in Zukunft 150 000 Klappräder im Jahr zu fertigen. Im vorigen Jahr verkaufte Brompton gerade mal 44 000, aber der Mittelständler mit seinen 250 Beschäftigten will kräftig wachsen. "Für uns ist das ein Rieseninvestment", sagt Geschäftsführer Will Butler-Adams - und ein manchmal "Furcht einflößendes" dazu.

Vier Monate nach dem Umzug stand bereits die nächste einschneidende Veränderung an, für Brompton, für andere Unternehmen im Königreich, für das ganze Land, für den ganzen Kontinent: 51,9 Prozent der Briten stimmten beim Referendum Ende Juni für den Austritt aus der EU.

"Im Moment brauche ich jede Minute Schlaf, darum bin ich nicht nachts für die Auszählung im Fernsehen aufgeblieben", sagt Butler-Adams. "Am Morgen war ich dann über das Ergebnis wirklich schockiert." Etwa 80 Prozent der Räder, deren billigste Version 1100 Euro kostet, gehen aus London ins Ausland, ein Drittel in die EU. "Großbritanniens Mitgliedschaft in der Union hat gewaltige Vorteile für Brompton", sagt der 42-Jährige, der mit seinen abgewetzten Lederstiefeln, der kurzen Hose und den hochgekrempelten Hemdsärmeln mehr einem Fahrradmonteur als einem klassischen Manager ähnelt.

Aber Enttäuschung über das Resultat verbietet er sich. "Enttäuscht zu sein, ändert nichts", sagt er. "Wir müssen damit klarkommen; wir müssen die negativen Folgen begrenzen und die neuen Möglichkeiten nutzen, die uns der Brexit bietet."

"Keep calm and carry on", Bleib ruhig und mach weiter, lautet ein berühmter Propagandaslogan aus dem Zweiten Weltkrieg, mit dem die Regierung die Moral der Bevölkerung stärken wollte. Heute wird die Parole auf zahllose Touristensouvenirs gedruckt, von Handtaschen und Kaffeebechern über T-Shirts und Handyhüllen bis hin zu Tangas. Der Ausspruch fasst die typisch britische Mischung aus Pragmatismus und Gelassenheit zusammen, und er passt gut zur Stimmung in der Wirtschaft nach dem Brexit-Referendum.

Die Manager machen weiter ihren Job und hoffen ansonsten auf das Beste: Was bleibt ihnen auch anderes übrig?

Tatsächlich haben sich die düsteren Prophezeiungen bisher nicht erfüllt, mit denen Ökonomen, Regierung und Verbände im Frühjahr vor einem Sieg des Brexit-Lagers gewarnt hatten. Eine Rezession sei möglich, ein harter Abschwung, hieß es. Bankenchefs drohten, sie würden Zigtausende Stellen aus den Londoner Glastürmen gen Festland verlagern, wenn der Austritt die Geschäfte in der EU erschwert.

Doch bislang kündigt lediglich ein russisches Geldhaus, VTB, an, wegen des Brexit Jobs von Investmentbankern aus London in Euro-Staaten zu verschieben. Die Bank gehört nicht gerade zur Champions League der Branche. Die anderen Konzerne warten ab. Schließlich ist unklar, wie die Handelsbeziehungen zwischen Königreich und EU nach der Scheidung aussehen werden. Sicher ist nur die Unsicherheit, und das wird noch lange so bleiben.

Die Wirtschaft wächst derweil kräftig weiter, überraschend stark um 0,5 Prozent von Juli bis September. In diesem Jahr wird Großbritanniens Wirtschaftsleistung schneller zulegen als die deutsche, sagen Volkswirte voraus. Aber für 2017 erwarten dieselben Fachleute eine Abkühlung der Konjunktur: Manager werden wegen der Ungewissheit Investitionen aufschieben, und Verbraucher werden Anschaffungen zurückstellen, da der Fall des Pfundkurses die Preise für Importiertes steigen lässt, etwa für Benzin, Bananen und Rotwein.

"Der Pfundverfall ist fantastisch", sagt Firmenchef Will Butler-Adams

In der Wirtschaftswelt ist der Absturz der Währung bisher die augenfälligste Folge des Referendums. Finanzmarktprofis schätzen, dass die Insel in Zukunft weniger attraktiv für Investoren ist: Das belastet die Notierung der Devise. Der britischen Industrie hilft die Abwertung, denn der niedrigere Kurs verbilligt deren Waren auf Exportmärkten. "Der Pfundverfall ist fantastisch", sagt Fahrradmanager Butler-Adams. Dank des Kursrutsches konnte Brompton seine Preise im Ausland senken, im Durchschnitt um sechs Prozent.

Premierministerin Theresa May will Brüssel bis Ende März offiziell über den Austrittswunsch unterrichten. Allerdings würde es schwer, den Zeitplan einzuhalten, wenn die Regierung wirklich vorher das Parlament um Erlaubnis bitten muss. Über diese Streitfrage berät der Oberste Gerichtshof im Dezember. Hat May die Scheidung eingereicht, wird zwei Jahre über die Bedingungen der Trennung verhandelt. 2019 wären die Briten dann draußen.

Für Brompton könnte es danach mühsamer werden, Räder in Europa zu verkaufen. "Ja, die EU ist bürokratisch. Ja, sie ist ineffizient", sagt der Firmenchef. "Aber sie macht Exporte einfacher." So will Brompton im Sommer 2017 Falträder mit Elektromotor auf den Markt bringen. Die EU-Vorgaben für Fahrräder mit Motor-Unterstützung seien "ziemlich kompliziert", sagt der Ingenieur. Es habe 30 000 Euro gekostet, für das Elektro-Klapprad die EU-Zulassung zu erhalten: "Damit haben wir allerdings nun auf einen Schlag Zugang zu den Märkten sämtlicher Mitgliedsstaaten."

EU-Regeln mögen also bürokratischer sein, doch dafür sparten es sich Firmen, die Zulassung in 28 einzelnen Ländern zu beantragen, sagt der Manager, der seit 2002 bei Brompton arbeitet. "In den USA hingegen ist es ein völliger Albtraum, Elektroräder zu verkaufen, weil jeder Bundesstaat eigene Vorschriften erlässt", klagt er.

"Trotzdem kriege ich keine Panikattacken wegen des Austritts", sagt Butler-Adams. "Wir werden darauf reagieren." Und es gebe Wichtigeres: Brompton plant, in den kommenden Jahren weitere 200 Läden in den USA zu eröffnen. Dazu die neue Fabrik. Und das Elektrorad. "All das ist viel entscheidender für unser Wohl und Wehe als der Brexit", sagt er. Doch natürlich fände er es hilfreich, wenn Großbritannien auch in Zukunft am gemeinsamen EU-Binnenmarkt teilnähme.

Diesen Wunsch teilt der Engländer mit zahlreichen anderen Managern. Sie schauen auf Norwegen, ein Land, das nicht Mitglied der EU, aber des Binnenmarktes ist. Darum können Firmen und Banken aus dem skandinavischen Staat in allen EU-Ländern Produkte verkaufen oder Filialen eröffnen, ohne vor Ort Genehmigungen einholen zu müssen. Dummerweise versprach Premier May auf dem Parteitag der Konservativen, dass Großbritannien nach dem Austritt die Einwanderung aus der EU kontrollieren kann und nicht mehr der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unterliegt. Das ist unvereinbar mit einer Teilnahme am Binnenmarkt.

Die Alternative ist ein Freihandelsabkommen, wie es die EU nach langem Hin und Her mit Kanada abgeschlossen hat. Dann fielen zumindest keine Zölle an. Firmen müssten sich bei Geschäften auf dem Festland allerdings auf bürokratische Hürden einstellen: Standards könnten abweichen, Genehmigungen wären nötig, Laster würden an der Grenze kontrolliert.

Die Regierung will Einwanderung erschweren - die Wirtschaft protestiert

Mays harsche Parteitagsrede ließ den Pfundkurs weiter abstürzen. Sie und ihre Innenministerin Amber Rudd verkündeten zudem einen härteren Kurs bei der Einwanderungspolitik. Für Unternehmen soll es schwieriger werden, Fachkräfte aus dem Ausland zu beschäftigen. Wirtschaftsverbände protestierten prompt.

Brompton-Boss Butler-Adams sagt, die schrillen Töne in der Migrationsdebatte hätten auch ihn beunruhigt. Der Manager geht schnellen Schrittes durch das Großraumbüro neben der Fabrikhalle. Junge Menschen in schwarzen T-Shirts mit dem Brompton-Logo sitzen an Schreibtischen; der Teppich hat einen praktischen Grauton, auf dem Flecken nicht auffallen. Es ist noch viel Platz für weitere Tische, alles ist auf Wachstum ausgelegt: auf Wachstum aus dem Ausland, und mithilfe ausländischer Beschäftigter. "Unsere Mitarbeiter kommen von überall her", sagt der Chef. "Wir haben zum Beispiel extra Leute aus China, Frankreich oder den Niederlanden angestellt, deren Kenntnisse dabei nützlich sind, dort Räder zu verkaufen."

Großbritannien sei immer kosmopolitisch gewesen, offen für Ideen und Menschen von außen, sagt der gebürtige Londoner. Einwanderung massiv zu erschweren, würde dem Königreich schaden. "Ich schätze aber, May will mit solchen Ankündigungen vor allem Härte beweisen", sagt er. Die Verhandlungen mit Brüssel könnten am Ende zu ganz anderen Regelungen führen, egal was die Regierung jetzt verspreche.

Die britische Wirtschaft werde mit dem Brexit schon klarkommen, glaubt Butler-Adams. "Wir werden Wachstum einbüßen und uns anpassen müssen, doch das Land kann auch außerhalb der EU prosperieren", sagt er. "Schlimm wäre nur, wenn wir uns abschotten würden." Das, sagt der ansonsten eher unerschrockene Manager, "ist meine einzige Furcht".

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Quelle:
SZ vom 15.11.2016
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