Temel Kotil kann den Erfolg erklären und zeigt ein Kurvendiagramm. Die Linie beginnt links oben und fällt zunächst steil ab. Ab der Marke von 200 verläuft sie dann waagerecht. Die Zahl markiert die Länge eines Fluges in Minuten. Kotil ist Chef von Turkish Airlines. Die Grafik soll zeigen, zu welchen Kosten die Fluggesellschaft fliegt.
Ab einer Flugzeit von rund drei Stunden sind sie so niedrig, dass selbst auf den normalerweise unschlagbar effizienten Langstrecken nicht günstiger geflogen werden kann. "Das ist reine Mathematik", sagt der Konzernchef.
In den nächsten sechs Jahren soll die Flotte sich verdoppeln
Es sind solche Charts, die der Konkurrenz Angst machen und gleichzeitig den erstaunlichen Erfolg von Turkish Airlines erklären. Drei Stunden, das ist ungefähr die Zeit, die ein Flugzeug von der Türkei zu den meisten Zielen in Europa, Nordafrika, dem Nahen Osten und Zentralasien braucht. Turkish Airlines, Partner der Lufthansa in der Star Alliance, kommt also fast im ganzen Streckennetz auf so niedrige Kosten, wie sie die Konkurrenz nur auf wenigen Strecken schafft. 30 Prozent billiger kann Turkish produzieren und will diesen Vorteil nutzen, um ein gigantisches Drehkreuz in Istanbul aufzubauen.
Auf mittlerweile 217 Flugzeuge ist die Flotte angewachsen. In diesem Jahr sollen noch einmal 20 Maschinen hinzukommen. In den nächsten sechs Jahren will Kotil die Kapazität auf 375 Maschinen fast verdoppeln. 300 Ziele sollen die Flugzeuge dann ansteuern, schon jetzt sind es mit knapp 250 mehr als bei jeder anderen Fluggesellschaft. Auf rund 1000 Starts bringt es Turkish täglich. "Wir haben zu wenig Kapazität, schon im aktuellen Streckennetz könnten es 2000 sein", sagt Kotil. "Wir expandieren wie verrückt."
Seit acht Jahren führt der Luft- und Raumfahrtingenieur den Konzern, zuvor lehrte er unter anderem an amerikanischen Universitäten und arbeitete in der Istanbuler Verkehrsbehörde für den heutigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Zu Turkish kam er, als die Airline gerade aufhörte, eine Behörde zu sein und eigenständig wurde. Zwar gehören noch immer 49 Prozent der Anteile dem Staat, 51 Prozent sind aber in privater Hand, und das Unternehmen ist börsennotiert.
Turkish profitiert stark vom wirtschaftlichen Aufschwung der Türkei und gilt als strategisch wichtig. 135 Milliarden Dollar haben die türkischen Exporte zuletzt jährlich betragen, geht es nach Erdogan, dann werden es in zehn Jahren mehr als 500 Milliarden sein. Um das zu erreichen, sind Flugverbindungen in alle Welt unabdingbar.
Kotil erkannte aber jenseits des boomenden und mittlerweile auch deregulierten Heimatmarktes den ungeheuren Vorteil, den die geografische Lage Istanbuls als Drehkreuz zwischen Asien, Europa und Afrika bot, und führte eine neue Strategie ein. Die Passagiere sollten auf den Langstrecken nicht mehr in Frankfurt oder Paris umsteigen, wenn sie von Asien nach Afrika reisen wollen, sondern in Istanbul. "Wir versuchen, die Verkehrsströme zu verändern", sagt Kotil. Es sieht so aus, als würde ihm das gelingen. In den vergangenen zehn Jahren stieg der Umsatz um mehr als das Fünffache auf mittlerweile knapp zehn Milliarden Dollar jährlich.
Seit Jahren fürchtet die Lufthansa, dass ihr Konkurrenten aus den Golf-Staaten Kunden abjagen. Eine mindestens ebenso große Bedrohung ist Turkish, denn Istanbul ist nicht so weit weg, und die Fluggesellschaft kann mit kleinen Maschinen viele deutsche Ziele anfliegen, die für Emirates, Etihad oder Qatar Airways nicht infrage kommen. Als Nächstes ist Friedrichshafen an der Reihe, damit kommt Turkish auf zwölf Destinationen in Deutschland.
Erdogan hatte bei einem Besuch in Deutschland für Aufsehen gesorgt, als er vorschlug, Lufthansa und Turkish sollten doch zusammengehen. Was das angeht, hält sich Kotil sehr bedeckt. Gespräche laufen. Aber nach Informationen aus Branchenkreisen geht es nicht um eine Beteiligung, sondern um eine erweiterte Zusammenarbeit bei Gemeinschaftsflügen oder Vielfliegern.
Neue Business Class für Kurz- und Mittelstrecken
Was das Produkt angeht, müsste Turkish allerdings langsam auf Verbesserungen bei dem deutschen Partner pochen, sollten die beiden Unternehmen wirklich enger zusammenrücken wollen. Turkish stattet die Kurz- und Mittelstreckenflotte gerade mit einer neuen Business Class aus, die jener der Lufthansa und jeder anderen europäischen Fluggesellschaft weit überlegen ist. Noch viel mehr investiert die Airline in die Flotte: 150 neue Maschinen sind fest eingeplant, doch das wird nicht ausreichen, um das Wachstum zu bewältigen. Kotil und seine Leute suchen nach Maschinen, die sie kurzfristig leasen können, bis die fabrikneuen Jets ausgeliefert werden können.
Zu einem großen Problem ist allerdings mittlerweile der Flughafen Atatürk in Istanbul geworden. Er platzt aus allen Nähten. Im Mai soll die Ausschreibung für den neuen Airport veröffentlicht werden, der schon im Jahr 2017 an der Küste des Schwarzen Meeres eröffnet werden soll. Die Anlage soll zunächst eine Kapazität von 90 Millionen Passagieren pro Jahr haben, wenn er voll ausgebaut ist, sollen 150 Millionen durchgeschleust werden können. Nur der geplante neue Flughafen von Peking und der jüngst eröffnete Dubai World Central Airport sollen in ihrer Endausbaustufe ähnliche Dimensionen erreichen. Spätestens mit dem neuen Flughafen will Kotil dann seine Vision zur Realität machen: "Ein Streckennetz aus 300 Zielen, das sich selbst für die nächsten 100 Jahre trägt." Und fast alle 300 befinden sich rechts der 200er Marke.