Süddeutsche Zeitung

Griechenland:Deutschland vergisst seine historische Verantwortung

Die Bundesregierung ignoriert im Griechenland-Streit die eigene Geschichte: Das Wirtschaftswunder war einst nur möglich, weil andere Länder Deutschland einen Schuldenschnitt gewährten.

Kommentar von Ulrich Schäfer

In den vergangenen Monaten hat die Bundesregierung - und allen voran: ihr Finanzminister - immer wieder deutlich gemacht, dass sie die finanziellen Forderungen der griechischen Regierung für völlig unangemessen hält, ja für geradezu weltfremd. Einen Schuldenschnitt, wie Athen ihn fordert? Werde es mit Deutschland nicht geben, sagt der Finanzminister. Sei kein Thema, sagt die Kanzlerin.

Und Reparationen für die Verbrechen, die die Wehrmacht und die Waffen-SS in griechischen Dörfern verübt haben? Werde es auch nicht geben. Diese Frage sei rechtlich und politisch abgeschlossen, sagt der Bundesaußenminister.

Merkel, Schäuble und Steinmeier haben es sich hier furchtbar leicht gemacht. Sie taten so, als gehe es in den Verhandlungen mit Griechenland allein ums Geld, allein um die Gegenwart, allein um die Frage, wie hoch die Mehrwertsteuer für griechische Hoteliers ist und wann die Menschen auf Kreta oder Korfu in Rente gehen. In Wahrheit aber schwebt - und da hat die Regierung von Alexis Tsipras den richtigen Nerv getroffen - im Hintergrund ein anderes, sehr viel größeres Thema: Es geht im Ringen um Griechenland, wie so oft bei europäischen Fragen, auch um die historische Verantwortung Deutschlands in Europa.

Diese Verantwortung erwächst aus dem Holocaust und den Verbrechen der Nazis; sie erwächst im Fall von Griechenland aber auch daraus, dass Amerikaner und Europäer der jungen Bundesrepublik nach Kriegsende weit, sehr weit entgegengekommen sind. Und zwar 1953, als das Londoner Schuldenabkommen geschlossen wurde.

Das Wirtschaftswunder war auch die Folge eines Schuldenschnitts

Die beiden Debatten zum Schuldenschnitt und zu den Reparationen, die die Regierung Tsipras angezettelt hat, haben beide etwas zu tun mit diesem Abkommen, das die Abgesandten aus 20 Nationen und der deutsche Chefunterhändler Hermann Josef Abs damals vereinbart hatten. Abs, später Chef der Deutschen Bank, rang den Gläubigern ab, dass sie Deutschland gut die Hälfte seiner Vorkriegs- und Nachkriegsschulden erlassen - alles in allem 15 Milliarden Mark. Amerikaner, Briten und Franzosen waren überzeugt, dass Deutschland ökonomisch andernfalls nicht wieder auf die Beine kommen würde - ein Argument, das sich heute auch auf Griechenland übertragen ließe. Merkel und Schäuble (und mit ihnen die anderen Europäer) haben das in den letzten Monaten verdrängt. Aber ohne den Schuldenerlass von 1953 hätte es das deutsche Wirtschaftswunder und den Exportboom der Fünfziger- und Sechzigerjahre wohl nie gegeben.

Abs handelte 1953 aber noch etwas anderes aus: Er vereinbarte, dass die Frage, ob Deutschland den Staaten aus dem Zweiten Weltkrieg Reparationen bezahlen muss, aufgeschoben wird, bis ein förmlicher Friedensvertrag geschlossen wird. Diesen Friedensvertrag gibt es bis heute nicht, in den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen, die vor 25 Jahren zur Deutschen Einheit führten, wurde diese Frage bewusst ausgespart. Wenn Deutschland heute sagt, es gebe für den griechischen Wunsch nach Reparationen keine rechtliche Grundlage, dann bezieht sich das einerseits auf den Zwei-Plus-Vier-Vertrag - und andererseits auf das Londoner Schuldenabkommen von 1953.

Juristisch mag man so argumentieren können, politisch überzeugend ist diese harte Haltung der Bundesregierung nicht: weder bei den Reparationen noch beim Schuldenschnitt. Stattdessen sollten sich Merkel und Schäuble in diesen Tagen daran erinnern, wie überraschend weit vor 62 Jahren die anderen Gläubigernationen dem verschuldeten Deutschland entgegengekommen sind. Hermann Josef Abs sagte über das Londoner Abkommen später einmal: "Mit der Regelung der Schulden erlangte die Bundesrepublik nicht nur ihre Kreditwürdigkeit, sondern die Welt begann, diesem Staat wieder zu vertrauen."

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SZ vom 25.06.2015/hgn/odg
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