Süddeutsche Zeitung

Grenzort Büsingen:Deutsche Insel

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Büsingen in Baden-Württemberg gehört politisch zu Deutschland und wirtschaftlich zur Schweiz. Ein Besuch.

Von Charlotte Theile

Wer eine Staatsgrenze überquert, merkt das heute noch, auch mitten in Europa. Es ist ein Gefühl, ausgelöst von Unstimmigkeiten, die sich wie zufällig ins Bild schieben. Ein deutsches Autokennzeichen. Das übergroße grüne H an der Bushaltestelle, das signalrote S der Sparkasse, wie in Deutschland üblich. Eine Bäckerei aber bewirbt Vanillekipferl für zwei Franken, an der Theke liegt das Schweizer Boulevardblatt Blick aus. Und an jedem zweiten Haus in Büsingen weht die Schweizer Flagge.

Bürgermeister Markus Möll ist CDU-Mitglied, aufgewachsen in Gailingen. Möll spricht Deutsch, so wie die Menschen im äußersten Süden von Baden-Württemberg Deutsch sprechen. Er kann lange über die Vorteile dozieren, die Büsinger genießen. Mölls Heimatort Gailingen liegt keine fünf Kilometer von Büsingen entfernt. Es ist eine andere Welt.

Roland Güntert ist, wie jeder Schweizer, sehr erleichtert, wenn er Mundart sprechen kann. Er ist Vorsitzender der Büsinger Bürgerinitiative. Das Schnitzel mit Pommes ("Schnippo") vor ihm auf dem Teller kostet 19 Franken, etwa 18 Euro. In Deutschland bekäme man dafür ein schönes Steak. Wir sind aber nicht in Deutschland, würde Güntert entgegnen. "Alles um uns herum ist doch Schweiz!"

Gelegentlich erlässt die EU-Kommission Ausnahmen, ausschließlich für Büsingen

Das Dumme ist nur: Büsingen gehört zu Deutschland. Es gibt einen Staatsvertrag, 24 Seiten, unterschrieben am 19. Juli 1967, verkündet von Bundespräsident Heinrich Lübke und Bundeskanzler Willy Brandt. Darin stehen viele umständliche Dinge, über Leichentransporte, Kartoffelverwertung, Pflanzenschutz und Eierwirtschaft, aber auch ein oder zwei Artikel, die vergleichsweise klar sind. "Das von der Schweiz umgebene Gebiet der Gemeinde Büsingen am Hochrhein (. . .) wird unbeschadet der politischen Zugehörigkeit zur Bundesrepublik Deutschland dem schweizerischen Zollgebiet angeschlossen." Heißt: Büsingen, eine deutsche Insel in der Schweiz, gehört politisch zu Deutschland und wirtschaftlich zur Schweiz.

Das klingt gut. Büsingen ist in der EU, bezahlt in Franken, die Bürger arbeiten in der Schweiz, wo die Löhne deutlich höher sind. Büsingen hat zwei Postleitzahlen, D-78266 und CH-8238. Wer in die Filiale der deutschen Post spaziert, kann in beide Länder zum Inlandstarif verschicken. Bürgermeister Möll, der in einem beeindruckend großen Rathaus, Parkett, hohe Decken, raumhohe Fenster, residiert, kann noch mehr Vorteile aufzählen: Der Kindergarten kostet ein Zehntel von dem, was in der Schweiz fällig wird, es gibt keine Abgaben für Grundstücksbesitzer, die Steuerfreibeträge wurden gerade um fünfzig Prozent erhöht.

Noch mehr begeistert sich Bürgermeister Möll für die Geschichte des Ortes. Sie geht zurück auf religiöse Streitigkeiten im 17. Jahrhundert, irgendwann einigte man sich, mit der Einschränkung, Büsingen dürfe nie an Schaffhausen fallen. Selbst der Wiener Kongress 1815, bei dem die Grenzen Europas neu definiert wurden, änderte nichts. Dass die Büsinger 1918 per Volksabstimmung entschieden, sie wollten zur Schweiz gehören: geschenkt. Büsingen blieb Enklave, Exklave, Mischgebiet. Heute, sagt Möll, habe die 1300-Einwohner-Gemeinde den Verwaltungsaufwand einer Großstadt: "Alles, was wir hier machen, ist grenzüberschreitend." Bei jeder Vorlage müsse er herausfinden, welches juristische System gelte, gelegentlich erlässt Brüssel Ausnahmen - ausschließlich für Büsingen.

Junge, ledige Gutverdiener sparen mit dem Umzug in den Nachbarort viele tausend Euro

"Einmal hatten wir den Fall, dass ein Juwelendieb nach Büsingen geflohen ist", sagt Möll. Die deutsche Polizei hinterher, doch da fingen die Probleme schon an. Höchstens zehn Polizisten dürfen gleichzeitig die Grenze nach Büsingen überqueren, ein Mannschaftswagen kann die Vorschrift schnell verletzen. Einmal in Büsingen, geht es kompliziert weiter. Staatsvertrag, Artikel 32: "Die Zahl der gleichzeitig in Büsingen anwesenden deutschen uniformierten Exekutivorgane darf nicht mehr als 3 pro 100 Einwohner betragen." Möll schaut wichtig. "Wenn man großzügig rechnet, sind das maximal 40 Beamte. Hatten wir jetzt noch nicht. Aber darauf muss man achten." Wäre der Juwelendieb von 42 Polizisten festgenommen worden, hätte sein Verteidiger dies anfechten können. Ähnlich schwierig ist es mit Leichentransporten. Sollte in Büsingen ein Mord geschehen, stünde man vor einem Dilemma. Die deutsche Polizei muss ermitteln, der Staatsvertrag wiederum schreibt vor, dass Büsinger Leichen ins schweizerische Schaffhausen transportiert werden müssen. Bürgermeister Möll weiß das, auch wenn es bisher nicht eingetreten ist. "Der Tod macht auch vor Büsingen nicht halt", sagt er.

Für den Vorsitzenden der Bürgerinitiative sind juristische Eventualitäten weniger interessant. "In Büsingen gibt es seit Jahrzehnten nur ein Thema: die Steuern." Roland Güntert sticht auf sein Schnitzel ein. "Wenn ich das schon höre: Vorteile! Ja, wo denn? Ja, was denn? Wenn ich mich mit meinen Schweizer Arbeitskollegen vergleiche, sehe ich nur Nachteile."

Mit der politischen Zugehörigkeit zu Deutschland haben die Büsinger in der Tat einen Nachteil: Das deutsche Steuersystem. Junge, ledige Gutverdiener sparen mit dem Umzug ins schweizerische Nachbardorf Dörflingen viele Tausend Euro im Jahr, auch Familien wie die von Roland Güntert trifft die Steuerlast empfindlich: "Für deutsche Verhältnisse sind Schweizer Einkommen hoch, das heißt, wir zahlen ordentlich Steuern. Gleichzeitig haben wir in Büsingen Schweizer Preise, das beziehen die in ihre Berechnungen nie mit ein." Seit dem ersten Franken-Schock im Jahr 2011 kämpft Güntert dafür, dass Büsinger den Schweizer Steuersatz zahlen. Er hat Wolfgang Schäuble getroffen, war in Berlin und Stuttgart. Dort konnte er kleine Erfolge wie die Erhöhung des Freibetrags erstreiten. "Es ist immer das gleiche Problem. Wer Büsingen durch die deutsche Brille betrachtet, sieht Vorteile. Das ist ein Denkfehler. Wir sind umgeben von der Schweiz und müssen im Wettbewerb bestehen." Seine Jugendfreunde seien mit ihren Familien in die umliegenden Schweizer Dörfer gezogen, sagt Güntert, der bei einem Weinhändler in Schaffhausen angestellt ist. Nur er habe sich entschieden zu bleiben und zu kämpfen - auch weil sein Sohn den Obstbaum-Hof des Vaters übernehmen will. In Büsingen kommt das gut an: Güntert ist in den Gemeinderat gewählt worden, er ist Stellvertreter von Markus Möll.

Der Bürgermeister hat ein Logo, das Büsingen beschreiben soll: Schwarz-Rot-Gold umgeben von Schweizer Kreuzen, strahlende Sonnenstrahlen. Darunter ein blaues Band, der Rhein, der durch den Ort fließt. "Wir sind von Gott geküsst", findet Möll.

Schwarz auf Gelb das Schild am Ortsausgang, Büsingen am Hochrhein. Dahinter reihen sich Gärtchen, sanfte grüne Hügel. Die Parkplätze an der Straße sind reserviert, für bestimmte Kfz-Kennzeichen, für die Kunden des Coaches "Der Anti-Aggressionstrainer". Dann kommt der Bus, pünktlich auf die Minute. Deutschland verschwindet im Rückspiegel.

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Quelle:
SZ vom 02.01.2016
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