Süddeutsche Zeitung

Google:Zurück zu den Visionen

Sergey Brin und Larry Page nehmen bei Google und Alphabet Abstand vom Tagesgeschäft - mal wieder. Die beiden Gründer bleiben aber weiterhin die mächtigsten Personen im Konzern.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Bei Fotografien lohnt es bisweilen, darauf zu achten, wer nicht zu sehen ist. Der Technikkonzern Google etwa lud kürzlich ein paar Leute ins Quantum Artificial Intelligence Lab ein, um den Quantenchip Sycamore zu zeigen, der Berechnungen wesentlich schneller als ein Supercomputer ausführen kann. Es könnte der Beginn eines neuen Computerzeitalters sein, für die Menschheit so bedeutsam wie der erste Flug des Satelliten Sputnik. Für derart zukunftsträchtige Projekte, die "Moonshots" heißen und dem Bereich "X" zugeordnet sind, sind bei Google die beiden Firmengründer Larry Page und Sergey Brin verantwortlich. Auf dem Foto im Labor sind allerdings nicht Page und Brin neben dem Chip abgebildet, sondern Google-Vorstandschef Sundar Pichai.

Es war ein dezenter Hinweis darauf, was am Dienstag offiziell verkündet wurde: Page und Brin ziehen sich aus dem Management zurück. "Wenn das Unternehmen eine Person wäre, dann wäre es nun ein junger Erwachsener, 21 Jahre alt - und es wäre Zeit, den Hühnerstall zu verlassen", heißt es in einem offenen Brief auf der Firmen-Webseite. Und: "Wir haben uns nie an Managementrollen geklammert, wenn es bessere Möglichkeiten gegeben hat, das Unternehmen zu führen. Alphabet und Google brauchen keine zwei Geschäftsführer plus einen Präsidenten. Es ist an der Zeit für uns beide, die Rolle der stolzen Eltern zu übernehmen. Wir bieten Liebe und Rat an, aber keine tägliche Nörgelei."

Sundar Pichai hat das Unternehmen durch turbulente Zeiten gebracht

Wer das Heranwachsen von Google in den vergangenen 20 Jahren verfolgt hat, der mag nun fragen: Ach, schon wieder? Bereits im Jahr 2001 hatten die beiden die Geschäftsführung an Eric Schmidt abgegeben, der den Börsengang des Unternehmens im Jahr 2004 verantwortete - Page, Brin und Schmidt vereinbarten damals, den Konzern bis 2024 gemeinsam zu leiten. 2011 übernahm Page, vier Jahre später übergab er nach der Gründung der Dachgesellschaft Alphabet das Google-Kerngeschäft an Pichai. Page wurde Chef von Alphabet, Brin der Präsident - Pichai war als Google-Chef beiden unterstellt.

Pichai manövrierte das Unternehmen behutsam durch turbulente Zeiten, es ging um Privatsphäre, Datenschutz, Fragen nach Missbrauch der Marktmacht und Vorwürfe der Steuerflucht. Es gab zudem Aufregung um die mittlerweile eingestellten Pläne, nur für den chinesischen Markt eine zensierte Version der Suchmaschine zu entwickeln. Um den Umgang mit heiklen Inhalten auf dem Portal der Tochterfirma Youtube. Um Geschäfte mit dem US-Verteidigungsministerium und der chinesischen Regierung. Um üppige Abfindungen für ehemalige Angestellte, die sich Verfehlungen geleistet hatten. Vor einem Jahr musste Pichai vor dem US-Kongress aussagen, ob der Algorithmus der Suchmaschine konservative Inhalte benachteilige.

"Weder die Struktur von Alphabet noch das Tagesgeschäft werden sich erkennbar ändern", schrieb Pichai in einer E-Mail an die Mitarbeiter. Seit seinem Aufstieg zum Vorstandschef hat Google 15 Quartale nacheinander mit Gewinn abgeschlossen, zuletzt mit 7,07 Milliarden Dollar. Im vergangenen Geschäftsjahr konnte das Unternehmen seinen Umsatz im Vergleich zum Vorjahr um 24 Prozent auf 136 Milliarden Dollar steigern. Google ist unverändert die wichtigste Umsatz- und Ertragssäule des Mutterkonzerns Alphabet, zu dem etwa auch die Roboterfirma Waymo gehört oder der Lieferdrohnenentwickler Wing. Dank Google ist der Wert der Alphabet-Aktie seit Jahresbeginn um fast ein Viertel gestiegen, der Konzern wird derzeit mit 893 Milliarden Dollar bewertet. Das sind starke Argumente für Pichai, zumal es aus dem Umfeld des Konzerns heißt, dass Brin und Page wenig Lust hätten, ein derart großes Gebilde zu leiten.

Sie sehen sich eher als Tüftler und Visionäre, Page zum Beispiel kümmert sich derzeit vor allem um die Firma Kitty Hawk, die fliegende Autos produzieren will. Das sei den beiden gegönnt. Ohnedies bröckelt im Techniktal an der Pazifikküste der lange Zeit mit religiösem Eifer gepflegte Gründerkult. Im Silicon Valley wird derzeit eher die Frage gestellt, ob Tüftler die Leitung einer Firma nicht früh abgeben und sich aufs Tüfteln konzentrieren sollten.

Das Kerngeschäft von Alphabet läuft prächtig

Page und Brin, beide 46 Jahre alt und seit ihrer Studienzeit an der Elite-Universität Stanford befreundet, seien in diesem Jahr, das berichten Angestellte, kaum noch auf dem Campus im kalifornischen Mountain View zu sehen gewesen und hätten zuletzt auch nicht mehr an den regelmäßigen Mitarbeiter-Meetings am Freitag teilgenommen. Im Juni überraschte Page sowohl Angestellte als auch Investoren, als er nicht zur Hauptversammlung kam. Der Rückzug wird deshalb als logische Konsequenz, als Abschluss einer Entwicklung gesehen, die sich seit Jahren angedeutet hatte. Das Kerngeschäft von Alphabet, also Werbeeinnahmen über Suchmaschine und Videoportal sowie das Betriebssystem Android, läuft prächtig. Deshalb kann sich der Konzern auch Investment in "Moonshots" wie den Quantenchip Sycamore leisten, bei dem es Jahrzehnte dauern könnte bis es Gewinn abwirft.

Allerdings greift Apple gerade mit dem Videodienst AppleTV+ die Google-Tochter Youtube massiv an, Amazon ist im wichtigen Wachstumsmarkt Cloud Computing bereits enteilt und wird eher von Microsoft denn von Google gejagt. "Ich freue mich, langfristige Herausforderungen anzunehmen und sie über Technologie zu lösen - dank Larry und Sergey ist unsere Mission eine zeitlose", schreibt Pichai. "Die gute Nachricht ist: Ich werde weiterhin mit den beiden arbeiten."

Page und Brin, deren Vermögen auf jeweils mehr als 50 Milliarden Dollar geschätzt wird, werden auch weiterhin im Aufsichtsrat des Konzerns sitzen - und gemeinsam gehören ihnen noch immer 51,3 Prozent der stimmberechtigten Anteile. Sie können, wenn ihnen der Sinn danach steht und sie sich einig sind, jeden Geschäftsführer absetzen. Sie mögen nicht mehr auf Fotos zu sehen sein, die Öffentlichkeit ist ihnen ohnehin stets zuwider gewesen, sie werden jedoch nach wie vor die Kontrolle über ihr Baby haben, das nun erwachsen sein soll.

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Quelle:
SZ vom 05.12.2019
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