Süddeutsche Zeitung

Vereinigte Staaten:Wo das Glück herkommt

  • Das in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten verankerte "Streben nach Glück" ist das amerikanischste der Menschenrechte.
  • Die Idee von einem Recht auf Glück erklärt vieles in den USA - die grenzenlose Gier ebenso wie den Erfindergeist, den Wagemut und die überwältigende Großherzigkeit.

Von Nikolaus Piper

Wenn heute in der Ökonomie von "Glück" die Rede ist, geht es meist um Forschungen darüber, wann und unter welchen Bedingungen Menschen behaupten, sie seien glücklich. Diese Studien haben ihren eigenen Wert, doch irgendwann kommt man an einem Dokument aus dem 18. Jahrhundert nicht vorbei - der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.

Am 4. Juli 1776 beschloss der Zweite Kontinentalkongress der dreizehn englischen Kolonien in Philadelphia, sich vom Mutterland loszusagen. Zu den "unveräußerlichen Menschenrechten", die der Kongress bei der Gelegenheit verkündete, gehörten nicht nur Leben und Freiheit, sondern auch "the pursuit of happiness", das Streben nach Glück also. Oder auch nach "Glückseligkeit", wie es in der ersten deutschen Übersetzung hieß.

Es ist wie eine Formel, die immer wieder neu inspiriert, einen Traum zu verwirklichen

Das "Streben nach Glück" ist das amerikanischste der Menschenrechte. In der französischen "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789 fehlt es ebenso wie in der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. Die Idee, dass das Streben nach Glück ein Recht ist, hat die DNA des amerikanischen Kapitalismus geprägt. Sie steht für grenzenlose Gier ebenso wie für Erfindergeist, Wagemut und überwältigende Großherzigkeit. Sie ist wie eine Formel, die immer wieder neu Menschen inspiriert, sich ihren Traum zu verwirklichen.

Im Jahr 2006 kam der Film "The Pursuit of Happyness" (die falsche Schreibweise ist Teil der Geschichte) in die Kinos. Darin spielt Will Smith einen alleinerziehenden schwarzen Vater, der als Vertreter für ein zweifelhaftes Medizinprodukt den kargen Lebensunterhalt für sich und seinen Sohn bestreitet. Zeitweise sind die beiden obdachlos. Natürlich geht die - größtenteils wahre - Geschichte gut aus: Der Vater lernt das Investieren, er bekommt einen guten Job bei einer Finanzfirma und bringt es schließlich zu Wohlstand.

Wie das "Streben nach Glück" erfunden wurde, ist eine Geschichte für sich. Autor der Unabhängigkeitserklärung war der damals 33 Jahre alte Thomas Jefferson, ein philosophisch gebildeter Plantagenbesitzer aus Virginia, der später einmal zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt werden sollte. Jefferson hatte eine Vorlage, an der er sich orientierte: die "Virginia Declaration of Rights", die Kolonisten in Jeffersons Heimat am 12. Juni 1776 beschlossen hatten. Darin wird das Recht eines jeden Menschen postuliert auf "den Genuss des Lebens und der Freiheit, die Mittel zum Erwerb und Besitz von Eigentum und das Streben nach und das Erlangen von Glück und Sicherheit".

Bemerkenswert ist, dass der Text aus Virginia das Recht auf Eigentum explizit erwähnt, ähnlich wie später die französische und die UN-Erklärung der Menschenrechte. In der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 fehlt dieser Verweis. Nicht dass Jefferson am Recht auf Eigentum gezweifelt hätte. Aber nach seiner Meinung sollte das Streben nach Glück sehr weit gefasst werden und nicht nur für Farmer und andere Besitzende gelten.

Das Recht auf Streben nach Glück impliziert, dass es auch ein Recht gibt, unglücklich zu sein

Der Feinschliff an Jeffersons Text stammt von Benjamin Franklin. Der Unternehmer, Erfinder und Publizist war damals bereits 70 und gehörte damit einer anderen Generation an als Jefferson. Franklin änderte nicht viel an dem Entwurf, einige Redigaturen sind jedoch von Bedeutung. Im ersten Satz der Erklärung etwa hatte Jefferson geschrieben: "Wir halten diese Wahrheiten" (dass alle Menschen gleich geschaffen und mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind) für "heilig und unbestreitbar". Franklin machte daraus: "Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich" (self-evident). Damit wurde die Erklärung der Menschenrechte säkularer und pragmatischer.

Manche Formulierungen aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wirken heute etwas altertümlich. Das Recht selbst, nach Glück zu streben, ist jedoch hochmodern. Es klingt nach der Entwicklungstheorie des Harvard-Ökonomen Amartya Sen, Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 1998. Sens zentrales Lebensthema war und ist es, die Lage der Armen auf der Welt zu verbessern. Deren wichtigstes Problem, so sagt er, ist nicht das geringe Einkommen (das kann Teil des Problems sein). Woran es den Armen wirklich mangelt, ist die Chance, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Das betrifft zum Beispiel junge Frauen in der Dritten Welt, wenn es in den Familien eine "boy preference" gibt, wie Sen schreibt - wenn also Geld und Bildungschancen nur den Söhnen zugute kommen. Entwicklungspolitik bedeutet also, den Menschen Zugang zu ihren Fähigkeiten zu verschaffen. Wobei "Fähigkeit" für die Freiheit steht, "unterschiedliche Lebensstile zu verwirklichen" - nichts anderes also als Jeffersons und Franklins "Streben nach Glück".

Wichtig an der berühmten Formulierung ist noch ein anderer Aspekt. Das Recht auf Streben nach Glück impliziert, dass es auch ein Recht gibt, unglücklich zu sein. Jefferson und Franklin wäre diese Feststellung vermutlich trivial vorgekommen. Nach den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts weiß man: Nichts daran ist trivial. Sowohl der Stalinismus als auch der Nationalsozialismus und später der Familienkommunismus der Kims in Nordkorea verlangten von ihren Untertanen, dass sie glücklich waren oder zumindest so taten als ob. 1935 schrieb der sowjetische Dichter Wassili Lebedew-Kumatsch sein in Russland lange sehr beliebtes "Lied vom Vaterland". Darin heißt es unter anderem: "Vom Amur bis an der Donau Strande/ von der Taiga bis zum Kaukasus/ lebt so froh der Mensch im weiten Lande/ ward das Leben Wohlstand und Genuss ...". Das Lied war eine monströse Lüge. Kurz zuvor, in den Jahren 1932 bis 1933, hatte die Kollektivierung der Landwirtschaft in der Ukraine zu einer Hungerkatastrophe geführt mit fünf bis sechs Millionen Toten. Wer es wagte, diese Lüge zu entlarven, der lebte nicht lange. 1936 begann der Große Terror Stalins. Jeder, der "in sozialer Hinsicht als gefährlich" eingestuft wurde, konnte im Gulag verschwinden. Wer unzufrieden ist und nach Glück strebt, der will Veränderung und bedroht damit Diktatoren. In Aldous Huxleys großer Dystopie "Schöne neue Welt" wird das Problem dadurch gelöst, dass die Behörden Klassen von Menschen im Reagenzglas züchten, die alle genetisch auf Zufriedenheit programmiert werden: "Tue gern, was du tun musst". Wie sich China im Zeitalter der Digitalisierung noch entwickeln wird, weiß man nicht.

Das Recht auf "Streben nach Glück" ist, anders als ein bloßes Glücksversprechen, nicht von Diktatoren missbrauchbar, es stärkt das Individuum. Die Gründerväter der USA haben der Menschheit damit ein Geschenk gemacht. Tragisch ist, dass sie nicht bereit waren, gleich auch die Schande der Sklaverei zu beseitigen. Franklin war sich wohl bewusst, dass die Sklaverei allem widersprach, was in der Unabhängigkeitserklärung stand. Er hoffte, dass sich das Problem irgendwann nach dem Unabhängigkeitskrieg lösen werde. Tatsächlich dauerte es noch fast 87 Jahre, ehe Präsident Abraham Lincoln am 1. Januar 1863 endlich Amerikas Sklaven befreite.

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SZ vom 02.01.2019/hgn
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