Süddeutsche Zeitung

Arbeitswelt:Gleichberechtigung erst im Jahr 2276

  • Deutschland ist im Ranking gegenüber dem Vorjahr aufgestiegen, vor allem, weil es mehr Frauen in der Spitzenpolitik gibt.
  • Dass das Land nicht besser abschneidet, liegt vor allem daran, dass die Wirtschaft bei der Gleichberechtigung im internationalen Vergleich hinterherhinkt.

Von Kathrin Werner

Island, Norwegen, Finnland, Schweden. Diese Ländernamen überraschen erst einmal nicht. Aber dann: Nicaragua, Neuseeland, Irland, Spanien, Ruanda. Was haben all diese Länder gemeinsam? Antwort: Sie schneiden besser ab bei der Gleichberechtigung von Frauen als Deutschland. Deutschland schafft es im internationalen Vergleich des World Economic Forums (WEF) auf den zehnten Platz. Immerhin, Top Ten, freuen sich Optimisten. Aber warum hinter Nicaragua und Ruanda, fragen Kritiker.

Das WEF in Genf analysiert jedes Jahr die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in 153 Ländern, heute erscheint der neue Global Gender Gap Report, der der Süddeutschen Zeitung vorab vorlag. Deutschland ist im Ranking zwar gegenüber dem Vorjahr aufgestiegen, vor allem, weil es mehr Frauen in der Spitzenpolitik gibt. Eine wirklich nachhaltige Verbesserung ist aber ausgeblieben: Im Jahr 2006, als das WEF mit der Messung des Geschlechtergefälles begann, lag Deutschland auf Platz 5. Dass das Land nicht besser abschneidet, liegt vor allem daran, dass die Wirtschaft bei der Gleichberechtigung im internationalen Vergleich hinterherhinkt: nur Platz 48 und damit deutlich schlechter als der Platz 36, den die deutsche Wirtschaft noch 2018 erreichen konnte. Anders als in Deutschland hängt in den meisten anderen Ländern ein hoher Anteil an Politikerinnen auch mit mehr Frauen in Führungspositionen zusammen.

Die zwei Hauptprobleme sind, dass Männer nach wie vor deutlich besser verdienen und mehr Führungspositionen ausüben als Frauen. Bei dem sogenannten Gender Pay Gap liegt Deutschland auf dem 68. Platz, bei der Machtbeteiligung in der Wirtschaft nur auf dem 89. im globalen Vergleich. "Deutschland hängt noch sehr stark zurück", sagt WEF-Forscher Roberto Crotti. "Was interessant ist, ist die Tatsache, dass Frauen bei der Beteiligung am Arbeitsmarkt in Deutschland fast gleichberechtigt beteiligt sind, sie es aber nicht in Machtpositionen schaffen und nicht die gleichen Gehälter aufrufen können." Zum Teil seien gesellschaftliche Normen schuld an der Ungerechtigkeit, sagt Crotti, etwa welche Erwartungen Nachbarn und Familien an Frauen stellten. Manche Probleme muss die Politik bewältigen, etwa Zugang zu Kinderbetreuung. "Wenn man sich aber anschaut, in welchen Ländern die Wirtschaft offener ist für Frauen als Deutschland, sehe ich vor allem die Unternehmen in der Verantwortung, ein besseres Umfeld für Frauen zu schaffen." Große Arbeitgeber in Deutschland hätten das bereits stärker verinnerlicht als kleinere, sagt der Analyst. "Und in Deutschland gibt es nun einmal sehr viele kleinere Unternehmen."

Ähnliche Probleme gibt es in vielen Ländern der Welt. Wenn sich die Beteiligung von Frauen an Macht und Wohlstand in der Wirtschaft im gleichen Tempo verbessert wie im vergangenen Jahr, wird es noch 257 Jahre dauern, bis Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Um im Berufsleben aufzuholen, müssen Frauen auf der ganzen Welt strukturelle Hürden überwinden, analysiert das WEF. Oft arbeiten sie in Berufen, die am stärksten von der Automatisierung betroffen sind, etwa im Einzelhandel. Außerdem entscheiden sich nicht genügend Frauen für jene Berufe, die den größten Lohnanstieg verzeichnen - vor allem in der Technologiebranche. Zudem fehlen Angebote für Kinderbetreuung und Zugang zu Kapital. Frauen verbringen laut WEF in fast jedem Land, in dem Daten vorliegen, mindestens doppelt so viel Zeit mit Betreuungs- und Freiwilligenarbeit. Das ist Zeit, die ihnen nicht zur Verfügung steht, um in ihre Karriere zu investieren. In Deutschland arbeiten Frauen jeden Tag 1,6 Mal so lang wie Männer im Haushalt und in der Kinderbetreuung, also unbezahlt.

Gerade der Anteil von Frauen in den Zukunftsbranchen ist erschreckend niedrig - was dazu führt, dass sich die Gleichberechtigung von Frauen in der Wirtschaft zuletzt weltweit verschlechtert hat und sich auch in Zukunft nicht verbessern dürfte. Frauen sind in den meisten neuen Berufsbildern im Durchschnitt stark unterrepräsentiert, hat das WEF gemeinsam mit dem Online-Karrierenetzwerk Linkedin ermittelt. In der Kategorie "Cloud Computing" zum Beispiel seien nur zwölf Prozent aller Fachkräfte Frauen, im Ingenieurwesen nur 15 Prozent. Das liegt nicht nur daran, dass sich Frauen seltener für solche Fächer entscheiden, sondern auch an einer Benachteiligung, sogar wenn sie eine Ausbildung in den Bereichen abgeschlossen haben. In der Datenwissenschaft etwa, einer schnell wachsenden Branche, sind 31 Prozent der Menschen mit Fachkompetenzen Frauen, aber nur 25 Prozent der Positionen von Frauen besetzt. Digitalfachkräfte sind etwa zur Hälfte weiblich, aber nur 41 Prozent der Jobs machen Frauen.

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Quelle:
SZ vom 17.12.2019
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