Süddeutsche Zeitung

Gleichstellung:Karriereknick per Gesetz

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"Über 50, männlich und störungsfrei" - so sehen typische Vorstände bisher in Deutschland aus. Das soll sich ändern, doch das Aktienrecht diskriminiert Frauen: Wollen sie eine kurze Babypause einlegen, müssen sie zurücktreten.

Von Katharina Müller, München

Als Verena Pausder an einem Samstag im März mit ihrer Familie auf dem Weg zum Fußballturnier ihres Sohnes ist, spürt sie eine Mischung aus Wut und Veränderungswillen. Einen Satz nach dem anderen tippt sie auf ihrer Handy-Tastatur. Denn kurz vorher hat sie eine Nachricht gelesen, die sie fassungslos macht: Delia Lachance, Vorstandsmitglied des börsennotierten Onlineshops Westwing, musste im Frühjahr von ihrem Amt zurücktreten. Nicht etwa, weil sie keinen guten Job gemacht hätte. Sondern weil sie schwanger ist und eine sechsmonatige Elternzeit nehmen will. Bei Westwing hieß es dazu damals in einer Mitteilung: "Die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland sehen für Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften aktuell nicht die Möglichkeit vor, Mutterschutz sowie Elternzeit in Anspruch zu nehmen." Daher sei die Westwing-Gründerin, wie rechtlich erforderlich, von ihrem Amt als Vorstandsmitglied zurückgetreten. Ein Skandal, findet Verena Pausder.

Am nächsten Tag veröffentlicht sie ihre Gedanken in einem Beitrag auf dem Karrierenetzwerk Linkedin: "Wir schreiben das Jahr 2020 und sehen keine gesetzlichen Möglichkeiten vor, dass eine Vorständin eine Babypause macht, ohne ihr Mandat niederlegen zu müssen? Außer wenn sie auf Mutterschutz verzichtet und durcharbeitet?" Das könne sie sich nicht vorstellen, teilt die 41-Jährige mit. Doch Arbeits- und Gesellschaftsrechtler bestätigen ihr kurz darauf genau das. Die aktuelle Rechtslage ist so: Vorstandsmitglieder von börsennotierten Unternehmen gelten nicht als Arbeitnehmer. Daher können sie weder Mutterschutz noch Elternzeit in Anspruch nehmen. Werden sie Mutter oder Vater und wollen dennoch eine Auszeit nehmen, müssen sie zurücktreten. Tun sie das nicht, bleiben sie verantwortlich. Ihnen drohen damit erhebliche Haftungsrisiken, da sie weiter ihrer Sorgfaltspflicht nachkommen müssen. So verlangt es das Aktiengesetz. Doch wer will und kann diese Verantwortung mit einem neugeborenen Kind auf dem Arm schon tragen?

"Wer sich als Vorstand für die Familie engagiert, dem droht nach aktuellem Recht ein Karriereknick. Das kann doch nicht sein", findet Pausder. Die Gründerin von zwei digitalen Bildungsunternehmen sitzt im Aufsichtsrat der Comdirect und ist gut in Wirtschaft und Politik vernetzt. Sie ist eine von den Frauen, die es nach oben geschafft haben. Doch der Regelfall ist das nicht. Mutterschaft birgt nach wie vor ein enormes Karriererisiko. Daher findet ihre Empörung vor allem bei der weiblichen Leserschaft Widerhall. Doch auch viele männliche Kommentatoren bestätigen sie unter ihrem Artikel in ihrem Unverständnis. Sie fasst den Entschluss, zu handeln. "Es war von Anfang an das Ziel, eine Initiative zu starten, um eine Gesetzesänderung herbeizuführen. Dafür brauchte ich Unterstützung", sagt sie heute.

Verena Pausder gründet die Initiative "Stay on board"

Zwei Wochen nach der Veröffentlichung wendet sich die 41-Jährige gezielt an Experten, die sich unter ihrem Beitrag gemeldet haben: "Lasst uns das Thema gemeinsam angehen." Mit sechs Mitinitiatoren ruft sie "Stay on board" ins Leben und verfasst ein Eckpunktepapier. Als "Board" wird das Leitungsgremium eines großen Unternehmens bezeichnet, daher der Name. "Uns geht es nicht um Arbeitnehmerrechte für Vorstände, also um eine staatlich finanzierte Lohnfortzahlung und eine Ausweitung des Mutterschutz-, oder Elternzeitgesetzes. Wir wollen lediglich, dass das Amt temporär - also für maximal sechs Monate - ruhen kann, ohne dass einem das auf die Füße fällt", stellt Pausder klar. Danach lebt es automatisch wieder auf. Zwar können bislang alle Beteiligten wie im Fall von Westwing und Lachance die Absicht äußern, nach Ende der Elternzeit wieder zusammenzuarbeiten. Doch wer kann schon sagen, was in sechs Monaten ist? Gewissheit, dass der Vorstandsposten nicht anderweitig vergeben wird, gibt es nicht.

Für Pausder ist klar: Hier geht es um eine Weichenstellung. "Eine Gesetzesänderung würde die Vorstandsetagen nicht nur diverser, sondern auch menschlicher machen", findet sie. Das Eckpunktepapier hat man inzwischen sowohl im Arbeits-, als auch im Familien- und im Justizministerium gesehen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kündigte Anfang Juli bei einem Gründerfrühstück an, gemeinsam mit Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) darüber sprechen zu wollen, "ob man da nicht neue Lösungen findet". Das Ziel sei in seinen Augen richtig. Im Sinne der Gleichstellung könne es nicht sein, dass Frauen in Chefpositionen aufgrund ihrer biologischen Eigenschaften benachteiligt würden.

Denn dass es durchaus anders geht, zeigt der Blick in das Nachbarland Dänemark. Dort gelten Mutterschutz und Elternzeit nicht nur für Arbeitnehmer, sondern können auch von Vorstandsmitgliedern genommen werden. Während ihrer Abwesenheit werden sie von ihren Pflichten entlassen und bleiben auch nicht für Entscheidungen des Vorstands verantwortlich. Zumindest wenn die Unternehmenssatzung vorsieht, dass ein stellvertretendes Mitglied das Amt vorübergehend übernimmt. Anders als es "Stay on board" für Deutschland anstrebt, können Vorstandsmitglieder während dieser Pause sogar Anspruch auf öffentliche Leistungen haben.

Zweifel, ob diese Regelung in der Praxis aber wirklich dazu beiträgt, den "Gender Leadership Gap" zu schließen, nähren Eurostat-Zahlen zum Anteil von Frauen in den Chefetagen. Während 2019 in Deutschland rund 14 Prozent der höheren Führungskräfte in den größten börsennotierten Unternehmen weiblich waren, lag der Anteil in Dänemark nur um drei Prozentpunkte (17 Prozent) höher - beide Länder liegen unter dem EU-Durchschnitt von 18 Prozent.

Im Alltag spiele der mögliche Mutterschutz für dänische Vorstandsangehörige nur eine marginale Rolle, sagt Yvonne Frederiksen, Partnerin bei der dänischen Anwaltskanzlei Norrbom Vinding. Es gebe keine offiziellen Erhebungen zu dem Thema, aber ihrer Einschätzung nach würden die meisten Vorstandsmitglieder ihr Amt in einem Alter antreten, in dem sie keine kleinen Kinder mehr haben. "Tatsache ist, dass fast niemand davon Gebrauch macht", sagt Frederiksen. Ist das ganze Aufhebens angesichts dessen also wirklich gerechtfertigt?

Ja, findet "Stay on board"-Mitinitiatorin und Anwältin für Arbeitsrecht Jessica Jacobi. "Früher sah das klassische Bild eines Vorstandes in Deutschland so aus: über 50, männlich und störungsfrei. Jetzt wird die Wirtschaft zum Glück bunter. Und der Trend in Richtung Diversity und mehr Familienvereinbarkeit kommt nach und nach - wenn auch langsam - in den Chefetagen an." Dieser Zeitgeist müsse nun auch im Aktienrecht verankert werden.

"Mit einer Frauenquote allein, wie sie jüngst Familienministerin Franziska Giffey in ihrer Gleichstellungsstrategie für 2020 gefordert hat, wird das Dilemma von Müttern in Führungspositionen nicht verbessert", mahnt Jacobi. In ihren Augen gibt es für mehr Geschlechtergerechtigkeit auch nicht die eine Lösung. "Vielmehr ist es ein Zusammenspiel von verschiedenen Ansätzen, die den Weg in die richtige Richtung weisen."

Prominente aus der Wirtschaft unterstützen die Initiative

Somit dürfte es bei der Gesetzesänderung hierzulande vor allem um eines gehen: ein Signal zu setzen, dass es Deutschland mit der Gleichstellung von Frau und Mann wirklich ernst meint und auch die richtigen Rahmenbedingungen dafür schafft. Außerdem gehe es, so Jacobi, bei den Anstrengungen, die Gesetzeslücke zu schließen, nicht nur um die Diskriminierung von Frauen. Auch bei Krankheit und der Pflege von Angehörigen sei eine längere Pause im deutschen Aktienrecht nicht vorgesehen. Das will die Initiative ändern.

Jacobi ist guter Dinge, dass es bis Ende des Jahres eine Gesetzesänderung gibt. Nicht nur weil zahlreiche prominente Vertreter aus der Wirtschaft wie der Ex-Daimler-Vorstandsvorsitzende Dieter Zetsche, Henkel-Vorstandsmitglied Sylvie Nicol und Delia Lachance selbst das Vorhaben unterstützen, sondern auch weil die FDP nach der parlamentarischen Sommerpause einen Antrag im Bundestag einbringen will. Es kommt also Bewegung ins Spiel, zu dem sich im Herbst dann nicht nur Arbeitsminister Heil, sondern die gesamte große Koalition verhalten muss.

Mitinitiiert wurde dieser Antrag vom FDP-Bundestagsabgeordneten Johannes Vogel. Er hofft, dass sich die Fraktionen im Herbst mehrheitlich hinter das Vorhaben stellen, es also am Ende eine legislative Mehrheit gibt, das Aktienrecht anzupassen. "Es handelt sich hier offensichtlich um eine Gesetzeslücke. Daher sehe ich dringenden Handlungsbedarf", betont der Politiker. Das deutsche Grundgesetz mache in Artikel 3 klar, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind, doch bis zu einem echten Kulturwandel in der Arbeitswelt und einer ausgewogeneren Berücksichtigung von Frauen sei es noch ein weiter Weg - wie der angesprochene Missstand durch "Stay on board" zeige.

Er ist sich sicher: Die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf erschwere es Frauen nach wie vor, an die Spitze von Unternehmen zu gelangen. "Hier müssen wir noch viel stärker ansetzen und die Frauen unterstützen, ihre Ziele weiterzuverfolgen", findet Vogel - und zitiert im selben Atemzug Sally Ride, die erste US-Amerikanerin im Weltraum: "You can't be what you can't see." Die Gesetzesinitiative ist für ihn mit der Frage nach der Vorbildfunktion in großen Konzernen verknüpft, die gerade Vorstandsmitgliedern zukommt. "Wie sie diese gestalten, hat eine Strahlkraft ins gesamte Unternehmen."

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SZ vom 10.08.2020
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