Sie sagt, sie hätten eine Zeitlang überlegt, ob sie das Video überhaupt produzieren und ins Netz stellen sollen. "Weil es unseren Mitarbeitern Angst macht und sie verunsichert", befürchtet Carletta Heinz, 37. Denn wenn tatsächlich alles zusammenbricht - wo sollen die Leute dann arbeiten?
Der Rennsteig, wo sich Thüringer- und Frankenwald treffen, liegt mitten in Deutschland und trotzdem abgelegen. Hier gibt es nicht viele Jobs, Napoleon nannte den Landstrich Klein-Sibirien, schwärmte aber von den Jagdgründen. Immerhin 1500 Menschen arbeiten hier für die Firma Heinz-Glas, die Carletta Heinz und ihrer Familie seit 400 Jahren gehört. Das Unternehmen hat seinen Sitz im fränkischen Kleintettau, einem Dorf mit 800 Einwohnern. Anderthalb Autostunden sind es von hier aus nach Erfurt und fast zwei nach Nürnberg, die beiden nächstgelegenen Großstädte. Vor der Wende 1989 war das Dorf an drei Seiten von der DDR-Grenze eingeschlossen. Trotzdem hat Heinz-Glas den Weg in die glamouröse große Welt gefunden. Jeder vierte Flakon, in dem Gucci, Yves Saint Laurent, Tiffany, Estée Lauder, Boss, Calvin Klein und andere große Marken ihre Parfums verkaufen, kommt von Heinz-Glas.
Das Familienunternehmen ist einer dieser Hidden Champions, ein heimlicher, außerhalb von Branche und Region unbekannter Weltmarktführer. Etwa 300 verschiedene Flakons produziert Heinz-Glas jedes Jahr in Stückzahlen zwischen jeweils 20 000 und 15 Millionen. Außer am Rennsteig hat die Firma auch in China und Polen, Indien und Peru Werke; 16 Standorte zählt sie weltweit. In diesem Jahr erwartet Carletta Heinz etwa 330 Millionen Euro Umsatz. Doch die Erfolgsgeschichte ist akut bedroht, weil ein nationales Problem mit großer Wucht in Kleintettau einschlägt: die explodierenden Energiepreise.
"Wenn es so weitergeht, können wir uns vielleicht noch ein halbes Jahr über Wasser halten", sagt Carletta Heinz, Inhaberin und Vorstandschefin. "Danach ist es vorbei." Sie meint nicht nur ihre Firma, sondern die gesamte Glasindustrie am Rennsteig. Diese wurzelt dort seit Jahrhunderten, denn das waldreiche Mittelgebirge bot reichlich Holz als Brennstoff. Glas zu produzieren und zu verarbeiten gehört zu den energieintensivsten Industrien überhaupt. Für seine Verarbeitung braucht es Temperaturen von 1600 Grad Celsius. Die Werke von Heinz-Glas, Wiegand-Glas, Gerresheimer und Röser am Rennsteig verbrauchen jedes Jahr so viel Erdgas wie 85 000 Einfamilienhäuser und so viel Strom wie die Privathaushalte einer Stadt mit 400 000 Einwohnern.
Die Kosten für Strom und Gas haben sich versechsfacht
"2017 bis 2020 lagen unsere Energiekosten bei durchschnittlich 40 bis 50 Millionen Euro pro Jahr", rechnet Carletta Heinz für alle vier Firmen vor. "Wenn es so weitergeht, müssen wir in diesem Jahr mit 260 Millionen Euro rechnen." Allein in den vergangenen zwölf Monaten seien die Preise um 500 Prozent gestiegen. "Wir verbrennen gerade jeden Tag viel Geld", sagt Heinz. Also haben sie sich zusammengetan, ein sieben Minuten langes Video produziert und online gestellt, Hashtag #alarmstuferot. "Es ist ein Hilferuf", sagt Carletta Heinz. Schließlich geht es um 8000 Arbeitsplätze in der Region. Nicht nur betroffene Unternehmer kommen in dem Clip zu Wort, sondern auch Beschäftigte, der Landrat des bayerischen Kreises Kronach, ein Vertreter der Industrie- und Handelskammer und ein Gewerkschafter.
Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert
Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.
Es ist keine Krisenbranche, keine ohnehin todgeweihte Industrie, die da ihre Not beklagt und um Hilfe bittet, ganz im Gegenteil. Es geht um Firmen, die aus der Provinz heraus international wettbewerbsfähig sind, unter normalen Umständen. "Wir sind an und für sich ein erfolgreiches Unternehmen", sagt etwa Nikolaus Wiegand, dessen 2000 Mitarbeiter zählende Firma Wiegand-Glas mit Sitz in Steinbach am Wald etwa ein Viertel aller Getränkeflaschen aus Glas herstellt, die in Deutschland benötigt werden. Sie ist zudem die Nummer eins hierzulande in Sachen Altglasrecycling. "Wir sind in gewisser Weise systemrelevant", sagt der Inhaber, der den Familienbetrieb in vierter Generation führt.
Etwa 80 Prozent des am Rennsteig produzierten Glases, ob Flaschen oder Parfumflakons, werden exportiert. Doch was nutzen hohe Exportquoten und eindrucksvolle Marktanteile, randvolle Auftragsbücher und ausgelastete Kapazitäten, wenn die Energiekosten derart explodieren, dass statt Gewinnen plötzlich hohe Verluste zu Buche schlagen und Investitionen nicht mehr finanzierbar sind?
Heinz-Glas hat gerade eine 16-Millionen-Euro-Investition am Standort Piesau auf unbestimmte Zeit verschoben. Wiegand-Glas lässt in seinem Werk in Schleusingen eine neue, für mehrere Millionen Euro fertiggestellte Schmelzwanne unbenutzt, weil der Betrieb teurer käme. Schmelzwannen sind, vereinfacht gesagt, riesige Öfen, in denen Glas geschmolzen wird, ehe es weiterverarbeitet werden kann. "Laufen die Wannen nicht mehr, werden wir nicht mehr in der Lage sein, das gesammelte Altglas aufzunehmen", sagt Markus Wiegand. Im Video kommt auch Frank Hammerschmidt zu Wort, Geschäftsführer der Firma Röser, die unter anderem Glasverpackungen bedruckt. "Wenn wir nicht auf ein vernünftiges Niveau kommen, werden wir nicht weiter existieren können", sagt er mit Blick auf die Energiekosten. "Unsere Mitarbeiter haben Angst um ihre Zukunft."
Die Industrie fordert den schnellen Ausbau erneuerbarer Energien
So erklären sie das seit Monaten auch bayerischen und Thüringer Landes-, aber auch Bundespolitikern. "Und wir weisen sie darauf hin, dass unsere Krise nicht selbstverschuldet ist", sagt Carletta Heinz. Bislang ohne Erfolg. In München bekomme man zu hören, dass man in Berlin bedauerlicherweise nicht mehr mitregiere. "Wir haben mit allen Parteien gesprochen, bleiben immer in der dritten, vierten Ebene hängen", schildert Carletta Heinz. "Alle zeigen zwar Verständnis und versprechen, das Thema nach oben zu tragen. Aber es passiert nichts. Das geht einfach alles nicht schnell genug." Auch Klaus Löffler, CSU-Landrat des oberfränkischen Kreises Kronach, hält Eile für geboten. "Wir brauchen sofort Unterstützung und nicht erst in drei Monaten", sagt er in dem Video.
Es geht bei alledem nicht nur um die Existenz der Glasindustrie am Rennsteig und etwaige schlimme Folgen für die strukturschwache Region und deren Arbeitsmarkt. "Es geht bei alledem auch um Umwelt- und Klimaschutz", sagt Carletta Heinz. "Wir produzieren in Deutschland unter strengen Auflagen und so effizient wie nirgendwo anders auf der Welt." Machen die hohen Energiekosten die Glasproduktion hierzulande unwirtschaftlich, "dann findet sie eben in anderen Ländern statt, mit weniger Vorschriften und unter schlechteren Bedingungen". Und zu günstigeren Konditionen. Im Atomstromland Frankreich zum Beispiel deckelt der Staat die Energiepreise für die Glasindustrie künstlich auf einem Niveau deutlich unter den Marktpreisen.
Carletta Heinz und ihre Mitstreiter fordern nicht nur Soforthilfen und faire Wettbewerbsbedingungen in Europa, sondern auch den schnellen Ausbau erneuerbarer Energien. Etwa 110 Windräder oder umgerechnet 3000 Fußballfelder voll mit Photovoltaikanlagen wären rechnerisch nötig, um den Energiebedarf der Glasindustrie am Rennsteig zu decken. Doch wie überall kommt der Ausbau auch im thüringisch-bayerischen Grenzgebiet kaum voran.
Für Carletta Heinz, selbst Mutter eines kleinen Kindes, geht es bei alledem um große Zukunftsfragen, persönliche und geschäftliche. Sie führt das Familienunternehmen in 13. Generation. Ein in Kleintettau auf ein Werkstor gemalter Stammbaum zeichnet die Geschichte der Familie und ihrer Firma nach, die vermutlich noch 100 Jahre älter ist, als es das offizielle Gründungsjahr des Unternehmens 1622 besagt. 2013, nach ihrem Betriebswirtschaftsstudium, ist Carletta Heinz in die Firma eingestiegen, vor zwei Jahren trat sie die Nachfolge ihres Vaters Carl-August an, der das Unternehmen 43 Jahre lang geführt hatte. "Ich wollte schon als Kind irgendwann mal seine Nachfolgerin werden", sagt sie. Kaum war sie im Amt, kam Corona. Und jetzt der Energiepreisschock.