Während die einen ihre Produktion herunterfuhren, legten andere erst richtig los: Auch in der Corona-Krise floriert das Geschäft mit Plagiaten. Gefälschte Arzneimittel, Schutzmasken und minderwertige Desinfektionsmittel etwa stellten Sicherheitsbehörden im März bei einer weltweiten Aktion sicher, koordiniert von Interpol. Produkt- und Markenpiraten sind flexibel und nutzen jede Gelegenheit.
Das merkte auch das Berliner Start-up Sentryc. Das Team spürt mit einer Software gefälschten und illegal kopierten Erzeugnissen im Internet nach. Mit Beginn der Corona-Krise gingen die Meldungen nach oben, etwa für Kinderspielzeug und Produkte aus dem Heimwerkerbereich.
Statistisch belastbar sind die Zahlen zwar noch nicht, dafür ist Sentryc noch zu jung und die Krise ja noch nicht vorbei. Im vergangenen Jahr gegründet, entwickelte das Team innerhalb von acht Monaten seine Software und ging zu Beginn dieses Jahres an den Markt. Zu den ersten Kunden gehören der Schreibwarenhersteller Lamy und die Fischerwerke, berühmt durch den gleichnamigen Dübel. Doch Produkt- und Markenpiraterie ist seit Jahren ein lohnendes Geschäft für Kriminelle, und die Fallzahlen steigen eher, als dass sie sinken. Einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft zufolge, beläuft sich der Schaden für die deutsche Volkswirtschaft auf 54,5 Milliarden Euro pro Jahr, rund 500 000 Arbeitsplätze gingen dadurch verloren.
Die Piraten attackieren alle Branchen, Luxusgüterkonzerne genauso wie die Industrie. Selbst ganze Produktionsstraßen kopieren die Täter, sagt Sentryc-Gründerin Nicole Jasmin Hofmann: Das Original koste einen sechsstelligen Betrag, die Fälschung dann nur fünfstellig. "Es ist verrückt, was alles nachgemacht wird."
In der Bekämpfung sind viele Akteure unterwegs. Der Zoll stoppt Fälschungen bei der Einfuhr nach Deutschland - 2019 in einem Wert von 224 Millionen Euro. Auch die Polizei registrierte im vergangenen Jahr knapp 8000 Fälle, in denen Wettbewerbsrechte verletzt wurden. Auf EU-Ebene ist das europäische Amt EUIPO zuständig, das die Rechte auf geistiges Eigentum für Unternehmen aus den EU-Mitgliedsstaaten schützt. Nach dessen Jahresbericht aus Juni wurden 2019 EU-weit 438 Millionen Gegenstände angehalten, etwa ein Drittel an den Grenzen. Der Schaden für den EU-Binnenmarkt liegt bei 15 Milliarden Euro: Den jeweiligen Finanzbehörden entgehen direkte und indirekte Steuern, zudem lässt da offenbar jemand etwas produzieren, ohne seine Mitarbeiter anzumelden und Sozialbeiträge abzuführen. Dazu kommen noch die Umsatzeinbußen von Unternehmen, deren Produkte gefälscht wurden, 19 Milliarden Euro laut EUIPO.
Hofmann kennt das Gefühl des Betrogenseins: "Der Anlass für die Gründung war eine Mischung aus Zufall und eigener Erfahrung." Als frühere Geschäftsführerin einer Firma, die Fitnessprodukte herstellt, hatte sie auf einer Messe Kontakte nach Asien geknüpft. Dann bekam das Team die Meldung, seine Marke sei in China eingetragen worden, ohne Absprache. Zwar habe man das rückgängig machen können, aber es dauerte und sei kompliziert gewesen. Als Hofmann dann 2019 ihren zukünftigen Mitgründer Hendrik Schüler traf, der an einer Vorläufer-Software von Sentryc arbeitete, kam die Erinnerung wieder hoch.
Als Hochrisiko-Länder gelten traditionell China und Länder in Osteuropa
Der selbstlernende Algorithmus des Start-ups ist über Schnittstellen an 120 Social Media-Plattformen und Online-Marktplätze angebunden. Diese werden rund um die Uhr mithilfe von Merkmalen, Beschreibungen und Bildern der Produkte abgescannt. Meldet die Software eine potenzielle Fälschung oder einen Markenmissbrauch, bekommt der Kunde eine Nachricht. Er prüft dann nach eigenen Kriterien, ob die Piraten gestoppt werden sollen. In 96 von hundert Fällen wünschen die Kunden den "Takedown". Sentryc - ausgestattet mit einer entsprechenden Vollmacht - kontaktiert dann die Plattform und beantragt die Löschung: in 99 Prozent der Fälle erfolgreich und in der Regel innerhalb von 24 Stunden. Problematisch sei dieser Weg nur, wenn der Fälscher in einem Land agiere, in dem das Unternehmen seine Marke nicht registriert hat. "Wir empfehlen unseren Kunden, auch in Highrisk-Ländern ihre Marke anzumelden, selbst wenn sie dort nicht aktiv sind", so Hofmann. Hochrisiko-Länder sind China und Länder in Osteuropa. Sie attackieren mit steigendem Erfolg industrielle Produktionen: 74 Prozent der Unternehmen im Maschinen- und Anlagenbau seien davon betroffen, so der Branchenverband VDMA.
"Wenn man eine Seite runternimmt, sind die Betreiber innerhalb von Wochen oder Monaten mit anderem Namen wieder da", sagt Hofmann. "Die Kunden müssen verstehen, dass es ein konstantes Thema ist." Sobald die Täter merken, dass sie nicht mehr im Fokus stehen, werden sie wieder aktiv, so die Gründerin. Die Kosten für den Service sind auf eine langfristige Beziehung ausgerichtet. Das Start-up berechnet nicht pro Takedown, sondern ein Monatsabonnement ab 600 Euro.
Hinter Sentryc steht der polnische Kapitalgeber Tar Heel Capital Pathfinder; dadurch hat das Start-up neben dem Sitz in Berlin und dem Vertrieb in Barcelona einen Standort in Stettin. In diesem Jahr könne man sich auf den Produktausbau konzentrieren, so Hofmann. Sie betont, dass das Unternehmen sich nicht als Wettbewerber zum Fachanwalt für Marken- und Wettbewerbsrecht verstehe. Es gehe den Gründern um das schnelle Entfernen von Fälschungen, um weiteren Schaden zu verhindern. Komme es hart auf hart, brauchen Unternehmen trotzdem einen Anwalt.