Süddeutsche Zeitung

Gipfelstürmer:Alt und Neu

Viele verbinden die Region Nürnberg-Fürth-Erlangen noch immer mit Namen wie Grundig, Quelle und AEG. Dass hier später Betriebe wie Consors, Immowelt oder Hotel.de entstanden, wissen aber nur wenige.

Von Uwe Ritzer

Heinz Raufer ist gerade auf dem Weg nach Wien, "meine Investments besuchen", sagt er. Raufer ist ein Business Angel. So heißen im modernen Start-up-Deutsch Menschen mit Erfahrung und Geld, die neu gegründete Unternehmen beratend begleiten und sich oft auch finanziell beteiligen. Raufer selbst ist mit einem solchen Start-up reich geworden, in einer Zeit, als mit dem Begriff hierzulande noch kaum jemand etwas anzufangen wusste und weder Firmengründungen an sich, noch der Wirtschaftsstandort Nürnberg im speziellen als hip galten. 17 Jahre ist das her und Raufers damaliges Unternehmen kennt heute jeder, der einmal online ein Zimmer gebucht hat: hotel.de

"Seit damals hat sich in Nürnberg sehr viel getan und entwickelt", spricht Raufer in Wien in sein Telefon. Wobei mit "Nürnberg" in diesem Fall auch die angrenzenden Nachbarstädte Fürth und Erlangen gemeint sind. Zusammen bilden sie einen Ballungsraum mit mehr als 700 000 Einwohnern. "In den vergangenen Jahren ist da eine überschaubare, aber sehr quirlige Szene entstanden, die nach meiner Wahrnehmung spürbar wächst und sich professionalisiert hat", sagt Raufer.

Das Städtedreieck Nürnberg-Fürth-Erlangen ist eine Start-up-Region - die Anfänge reichen sogar in jene Zeit zurück, als der industrielle Niedergang mit dem Verlust von Zehntausenden Arbeitsplätzen das Bild bestimmte. Noch während alle Welt den Ein- oder Zusammenbruch von Nachkriegsgrößen wie Quelle, Triumph Adler, AEG oder Grundig entsetzt verfolgte, keimte in der Region allerhand Neues. So gründete 1994 der Jung-Banker Karl Matthäus Schmidt den Discount-Broker Consors, heute als Consorsbank Teil der PNB Paribas und eine etablierte Größe in der deutschen Bankenszene. Zwei Jahre später ging Immowelt.de in seiner jetzigen Form in Nürnberg an den Start. Später folgten, um im Internetgeschäft zu bleiben, Anbieter wie Anwalt.de oder der Softwarehersteller Open-Xchange. Allesamt bekannte und erfolgreiche Unternehmen. Aber kaum jemand weiß, dass sie ihren Ursprung und ihren Sitz in Nürnberg haben.

Michael O. Schmutzer kennt das aus eigener Erfahrung. Sein Unternehmen existiert seit 2008 und seit drei Jahren hat es seinen Sitz in den beiden obersten Etagen eines unscheinbaren Bürohauses schräg gegenüber dem Nürnberger Hauptbahnhof: Design Offices. Im "Fireside Room" im vierten Stock beugt sich Schmutzer am Tisch fast schon kämpferisch nach vorn, er sprüht förmlich vor Energie. Gerade hat der 51-Jährige 60 Millionen Euro für die weitere Expansion seines Unternehmens eingesammelt. Die Geschäfte boomen. "Der radikale Wandel der Arbeitswelt in der Digitalisierung ist unser größter Treiber", sagt Schmutzer.

Der Fürther mit dem trendig frisierten, grauen Haar ist einer der derzeit erfolgreichsten Nürnberger Start-up-Unternehmer. Design Offices wächst atemberaubend schnell. Die Firma schafft und vermietet Arbeitswelten für die digitale Wirtschaft, Landschaften aus multifunktionalen und variablen Büro- und Besprechungsräumen in allen erdenklichen Größen, gemütlichen Nischen, Lounges und Freizeit-Areas. Das alles inspirierend eingerichtet, bevorzugt mit Designermöbeln, von denen Schmutzer viele selbst entworfen hat. Design Offices schafft die Kulissen, um Arbeit mit Lifestyle zu verbinden und um etablierte Großunternehmen und kleine Start-ups zusammenzubringen. Ihnen bietet die Firma den kompletten Service - vom Kugelschreiber bis zur ultrasicheren Internetverbindung, vom Catering bis zu Hausmeisterdiensten.

Design Offices ist nationaler Marktführer in dem Branchensegment. Und der Chef will mehr. Von Nürnberg aus steuert Schmutzer bundesweit 22 Design-Offices-Standorte mit 300 Mitarbeitern und will diese Zahlen in den kommenden Jahren mehr als verdoppeln. Auch in Nürnberg werde man "in naher Zukunft einen neuen, großen Standort eröffnen", sagt er. Vieles spräche nämlich für die Stadt: Die im Vergleich zu anderen Ballungsräumen niedrigen Lebenshaltungskosten, die hervorragende Verkehrsanbindung, das Umfeld mit bekannten und erfolgreichen Unternehmen von Adidas über Leoni oder Faber-Castell bis hin zu boomenden Mittelständlern in unterschiedlichen Branchen, von denen sich viele inzwischen bei Design Offices einmieten. Und dann ist da noch das in den vergangenen zwanzig Jahren immer größer und dichter gewordene Netz an Hochschulen und Forschungseinrichtungen, aus denen heraus sich ständig neue Start-ups entwickeln.

Und was läuft schief?

Michael Schmutzer muss nicht lange überlegen. "Die Wahrnehmung." Franken seien in der Regel wenig kommunikationsfreudig, weder nach innen und erst recht nicht nach außen. "Von einem kleinen Beitrag in der IHK-Zeitung abgesehen, hat hier kaum jemand unseren Erfolg wahrgenommen", sagt Schmutzer.

Es fehlt an Vernetzung und an Kommunikation, auch wenn es immer mehr organisierte Treffs gibt wie die jährliche Webweek oder die Angebote der Landesinitiative Baystartup. "Die Gründerszene in und um Nürnberg ist inzwischen sehr rege, aber auch sehr verteilt auf viele Inseln", sagt Yvonne Stolpmann. "Es gibt hier noch kein großes Ganzes." 2011 trat sie ihren Job als Gründer- und Start-up-Spezialistin bei der Nürnberger IHK an. Vor etwa fünf Jahren sei plötzlich "vieles in Bewegung geraten", erinnert sich Stolpmann. "Es gibt hier viele Menschen mit enormer Motivation und der Passion, ihre Träume und Pläne zu verwirklichen." Die meisten Start-ups böten unternehmensnahe Dienstleistungen oder seien im Digitalgeschäft angesiedelt.

Und dann gibt es noch den Spezialfall Erlangen, Universitätsstadt und zugleich einer der großen Siemens-Standorte. Erlangen hat sich in den vergangenen Jahren zum wichtigsten deutschen Medizintechnik-Zentrum entwickelt, 500 einschlägige Firmen soll es hier inzwischen geben. Vom "Medical Valley" sprechen sie am Ort selbstbewusst. "Wir haben hier seit Jahren starke Gründungsaktivitäten und viele Alleinstellungsmerkmale, was neue medizintechnische Verfahren und Technologien angeht", sagt Christian Neusser, der als Business Angel in der Sparte unterwegs ist. Was ihm auffällt: Viele Gründer kämen nicht frisch von der Hochschule, "sondern da sind sehr viele Leute mit Berufserfahrung darunter."

Um zu erfassen, wohin in der Gründerregion die Reise geht, rät Neusser zum Blick auf den Zollhof. "Tech Incubator" nennt sich das öffentlich geförderte Gründerzentrum mit dem Schwerpunkt Digitalisierung. Kurz nach seiner Eröffnung war der Zollhof bereits ausgebucht; auch jede Erweiterung seither fand schnell ihre Nutzer. Laut Geschäftsführer Benjamin Bauer ist kein Ende in Sicht: "Allein wegen der vielen Top-Hochschulen und der Forschungseinrichtungen sind die Voraussetzungen für Start-ups in Nürnberg exzellent." Was die Dynamik angehe gehöre das Städtedreieck "zu den Top Ten der Gründerregionen in Deutschland".

Manchmal heißt es aber auch Abschied nehmen. Wie von hotel.de, das von der größeren HRS geschluckt wurde und seinen Nürnberger Standort geschlossen hat. Für Heinz Raufer war der Verkauf zweifellos ein lukratives Geschäft. Er selbst investiert und gründet munter weiter, natürlich von Nürnberg aus. "Als wir hotel.de aufgebaut haben, gab es hier noch keine echte Start-up-Kultur", sagt er. Jetzt schon.

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Quelle:
SZ vom 12.06.2018
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