Gier nach Geld:Umschlagplatz Odessa

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Eine Seilbahn verbindet die Stadt mit dem Hafen von Odessa: Wenn die Ukraine der EU näherkommt, wird dieses Schmuckstück Opfer der Sicherheitsrichtlinien. (Foto: aug)

Die Ukraine ist ein marodes Land: Dies ist das Ergebnis von Gier nach Geld und Einfluss. Die Regierung ist nun erpicht darauf, der Europäischen Union beizutreten.

Von Franziska Augstein, Odessa

In der Hafenstadt Odessa bringt eine hübsche Seilbahn die Badegäste von der Anhöhe, auf der die Stadt erbaut ist, zum Strand hinunter. Die Studienreisenden aus Deutschland, Belgien und Rumänien sind von den allerliebst bemalten Zwei-Personen-Gondeln angetan. Die gegenwärtige Regierung der Ukraine ist erpicht darauf, der Europäischen Union beizutreten. Dafür müssen bis 2025 genau 426 EU-Normen übernommen werden, zwei davon sind bisher umgesetzt, neun weitere zum Teil. Bleiben also 415. Wenn die Ukraine der EU näherkommt, wird dieses altmodische Schmuckstück von einer Seilbahn den EU-Sicherheitsrichtlinien zum Opfer fallen: Die langsam heranwackelnden Gondeln halten nicht an, die Passagiere müssen aufspringen, und die Türen sichern sie selbst während der Fahrt, indem sie einen Hebel umlegen.

Aufspringen will die Regierung der Ukraine nun auf den Zug "Europäische Union". Das ist eine Fahrt ganz anderer Art. Aus Brüssel ist zu hören, die dortigen Wirtschafts-Technokraten hätten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie erfuhren, das geschäftlich nicht satisfaktionsfähige Land wolle ein wirtschaftliches Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union, ja den Beitritt zur EU und womöglich auch zur Nato.

In der Ukraine gibt es eine mehr oder minder schweigende große Minderheit: Das sind alle jene, die sich Russland nahe fühlen. Und es gibt eine Mehrheit, die Oberwasser hat. Angesichts der kriegerischen Zustände im Donbass greift der Nationalismus um sich, in seiner Begleitung kommt die Neigung zu Übertreibung und politischer Hysterie. Ein verdienter Oberst der ukrainischen Streitkräfte, Iwan Iwanowitsch Safka, überzieht die kleine Reisegruppe mit markigen Worten: Wladimir Putin habe "den Dritten Weltkrieg" entfesselt; das habe es "in der Geschichte noch nicht gegeben"; "Ich betone: es ist ein Krieg gegen Europa."

Der Pianist und begabte Odessaner kulturelle Strippenzieher Alexej Botnikow ist friedfertiger gestimmt. Wenn es ans Geld geht, macht freilich auch er - mit dem Dichter Robert Gernhardt gesprochen - aus seiner Mördergrube kein Herz: Die Europäische Union müsse der Ukraine Geld geben. Zur Demokratie und Europa habe die Ukraine sich bekannt, also müsse die EU ihr jetzt beispringen. Sie verdiene Hilfe viel mehr als das larmoyante Griechenland.

Dieses Argument ist in der Ukraine derzeit oft zu hören. Die Wiederholung macht es freilich nicht besser. Einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zufolge haben die griechischen Regierungen seit 2009 mittels Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen bis heute kumulativ 17 Prozent des Bruttosozialprodukts eingespart, mehr als jedes andere europäische Land. Der britische Economist urteilte: Man könne Griechenland nicht vorwerfen, im Hinblick auf "öffentliche Ausgaben zu wenig zu tun".

Freihandel kann nur Arbeitsplätze schaffen, wenn die Korruption eingedämmt wird

Im kommenden Jahr sollen - schon vor der Ratifizierung - einige Klauseln des geplanten Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine wirksam werden, die vor allem den Handel betreffen. Nicht ganz klar ist derzeit, wie die Ukraine auf diese Weise auf einen grünen Zweig kommen kann. Zum einen ist das Land von Korruption durchfressen und kein Ort ordentlicher Marktwirtschaft. Zum anderen ist es auf Exporte nach Russland und in die GUS-Staaten angewiesen.

Seitdem die Ukraine 1991 unabhängig wurde, haben viele, die auch nur das Mindeste zu sagen hatten, danach getrachtet, sich zu bereichern. Das fängt bei den Verkehrspolizisten und den Zöllnern an und geht hin bis zu den Oligarchen, die ihre Gefolgsleute in politischen Ämtern installieren, sofern sie der Einfachheit halber nicht gleich selbst Präsident oder Premierminister werden. Sie erreichen das auf demokratischem Weg, Silvio Berlusconi gelang das auch: Wichtig ist der Erwerb von TV-Sendern. Der jetzige Präsident Petro Poroschenko besitzt ein erfolgreiches Sprachrohr: TV5. Vermutlich weil die Idee ihn ankam, dass das vonseiten der EU als anrüchig angesehen werden könnte, unterstützt Poroschenko nun den beliebten Polit-Moderator Zurab Alasania. Der soll den darniederliegenden staatlichen Sender wieder auf die Beine bringen. Bei, laut Alasania, derzeit ein Prozent Einschaltquote und ungewisser Finanzierung ist noch nicht abzusehen, wie ernsthaft Poroschenko dieses Anliegen betreibt.

Der Brite Andrew Tesoriere von "Eubam" (diese von der EU finanzierte Organisation ist unter anderem zuständig dafür, in Odessa Zollabwicklungen zu verrechtlichen), sitzt derzeit auf einem vergleichsweise ruhigen Posten. Ende der Neunzigerjahre hat er in Afghanistan mit den Taliban verhandelt. Tesoriere sagt: "Es geht nicht nur um die Oligarchen. So viele Leute verdienen mit Betrügereien. Wenn von dem Geld ein zweites Haus in Monaco gekauft wird: Das wäre ja gar nicht so schlimm. Aber das Geld kann auch für Menschenhandel benutzt werden oder dafür, Wahlen zu korrumpieren." Tesoriere warnt davor nicht ohne Grund. Auch heute gelten viele Politiker in der Rada, dem nationalen Parlament der Ukraine, und in den Provinzparlamenten als gekauft. Odessa ist ein Umschlagplatz für den Handel mit Frauen.

Das Ergebnis von Gier nach Geld und Einfluss seit 1991 sieht so aus: Die Ukraine ist ein marodes Land und stand unlängst kurz vor dem Staatsbankrott. Während die Regierung von Barack Obama vor einigen Jahren die Pazifik-Region für viel interessanter hielt als Zentraleuropa und die Ukraine der EU überließ, hat sie sich dann doch wieder eingemischt. Die USA trugen dazu bei, dass der Weltwährungsfonds sich gegenüber der Ukraine kulant zeigte.

Gute Verhältnisse zwischen den USA und ukrainischen Politikern bestehen seit Langem: Der ukrainische Präsident und Oligarch Petro Poroschenko hat beste Geschäftsbeziehungen zur amerikanischen Wirtschaft. Er liegt in Fehde mit dem Premierminister, Arsenij Jazenjuk, und wollte ihn vor ein paar Monaten absetzen. Das aber haben, in der Ukraine ist das bekannt, die USA verhindert, weil auch Jazenjuk beste Beziehungen zu den Vereinigten Staaten pflegt: ausgerechnet Jazenjuk, der von den auf Rechtstaatlichkeit erpichten ukrainischen Maidan-Aktivisten mittlerweile zu genau der Art von Politikern gezählt wird, die sie loswerden wollten. Die fettesten Vorschusslorbeeren auf dem internationalen Parkett erhält derzeit die ukrainische Finanzministerin, Natalija Jaresko. Sie wuchs in den Vereinigten Staaten auf und war wirtschaftliche Beraterin im US-Außenministerium, bevor sie 1992 aufbrach, ihre Karriere im Land ihrer Väter fortzusetzen. Große Hoffnung wird in sie gesetzt.

Vom Freihandel mit der EU versprechen viele Ukrainer sich eine Menge. Alexander Libman von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik sagt dazu Folgendes: Die Ukraine sei die Brücke zwischen Europa und Russland und den GUS-Staaten. Ein Desaster wäre es für das Land, wenn es aus politischen Gründen keinen Handel mit Russland mehr treiben könne. Die Ukraine sei auf den Handel mit Russland angewiesen. Russland für sein Teil habe nicht ganz zu Unrecht remonstriert, als Gespräche über das Freihandelsabkommen der EU mit der Ukraine anstanden: Russland, so Libman, wollte möglichen Missbrauch seitens der ukrainischen Bürokratie nicht hinnehmen.

"Viele politische, wirtschaftliche und kulturelle Dinge hängen zusammen."

Im Klartext: Russland wollte nicht mit Schmuggelware überflutet werden. Der Freihandel mit der EU, meint Libman, werde der Ukraine durchaus zugutekommen, werde Investitionen ins Land bringen und Arbeitsplätze schaffen. Aber erst in einigen Jahren. Und das auch nur dann, wenn die Korruption eingedämmt werde.

Um dem Staatsbankrott zu entgehen, hat die ukrainische Regierung allerlei Gesetze verabschiedet, mit denen sie dem Westen zu gefallen hofft. Zwei, ja drei staatliche Agenturen zur Korruptionsbekämpfung wurden in Kiew auf dem Papier ins Leben gerufen und - notdürftig - mit Personal bestückt. Fragt man Ukrainer, was sie davon und ihrem gesamten Justizsystem halten, lassen sich die Antworten am besten mit Comic-Icons umschreiben: Geballte Fäuste und Blitze. Auf der nach unten gedeckelten Umfrage hat das kleine, aber feine und nach eigenen Angaben vor allem von der Weltbank finanzierte Meinungsforschungsinstitut KIIS (Kiev International Institute for Sociology) ermittelt: die Banken, die Rada in Kiew, der Generalstaatsanwalt sowie ukrainische Gerichte finden keinerlei Vertrauen bei der Bevölkerung.

Präsident Poroschenko, offenbar ein fantasievoller Mann, hat vor ein paar Monaten den ehemaligen Staatspräsidenten Georgiens zum Gouverneur des Oblasts Odessa erkoren: Micheil Saakaschwili hat 2008 - so geht es aus dem Abschlussbericht der EU hervor - einen Kleinkrieg mit Russland vom Zaun gebrochen. Dann verlor er sein Amt. Er grantelt gegenüber Russland und hat sich in seinem Regierungsbezirk in Szene gesetzt: burschikos, bürgerfreundlich, bärenstark. Alles Mögliche hat er den rund zweieinhalb Millionen Einwohnern versprochen: Die Straßen außerhalb Odessas, die mit Schlaglöchern von bis zu einem Meter Tiefe übersät sind, würden repariert werden; eine Brücke über die Donau wolle er bauen; mit der Korruption werde er aufräumen. Alles gut und schön, sagen Experten, möglich sei allerdings, dass Saakaschwili nach Kiew umziehen werde, bevor er seinen Reden habe Taten folgen lassen.

Im vielleicht schicksten Büro in Odessa arbeiten ein paar Angestellte und etliche Volontäre für das "Odessa Impact Hub" - eine Kulturfabrik. Wer die finanziert, mag der Programm-Manager Alexander Slawsky nicht preisgeben: "Viele politische, wirtschaftliche und kulturelle Dinge hängen in Odessa zusammen. Er will nicht mit uns gesehen werden und wir nicht mit ihm." Dessen ungeachtet, besuche der Mann gelegentlich eine Buchvorstellung. Über Saakaschwili mag Slawsky kein Urteil abgeben, denn: "Bei uns arbeiten Leute, die bei Saakaschwili beschäftigt sind."

Eine von ihnen ist Julia Ternova, eine junge Frau, sie hat studiert. Sie mag gern sagen, was sie denkt, und nimmt kein Blatt vor den Mund: Im Amtssitz von Saakaschwili sollten - finanziert von der "Renaissance Foundation" des Milliardärs George Soros - etliche Abteilungen geschaffen werden, zur Bekämpfung von Korruption und zur Bewältigung von Verwaltungsaufgaben im Interesse der Bürger. Mittlerweile gibt es sieben Abteilungen. Sie bestehen aus jeweils einer Person, darüber sitzt ein Chef. Julia Ternova ist für die Abteilung "Personal" zuständig, ihre Aufgabe: Beamte kontrollieren. Alle Beamte. Weil der Bürgersinn in der Ukraine gut entwickelt ist, hat Ternova 120 Bewerbungsgespräche mit Volontären geführt. Sie sagt, ironisch: "Die eine Hälfte wollte mitmachen, um sich auf einem Foto mit Saakaschwili zu sehen, die andere Hälfte wollte Saakaschwili umbringen." Zwei Applikanten sind geblieben. Julia Ternova ist in Sorge um ihr Land.

© SZ vom 21.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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