Warum gibt es Firmen, die ihre Beschäftigten mit Mindestlohn abspeisen, und solche, die nach Tarif zahlen? Warum haben die einen am Ende ihrer Karriere eine Rente, die zum Leben reicht, während andere vor einer bösen Überraschung stehen? Warum muss man bei dem einen Arbeitgeber froh sein, dass er den Filterkaffee in der Büroküche spendiert, während der andere Fitness- und Entspannungskurse bezahlt?
Ungleichheit ist ein großes Wort. Aber wie gleich oder wie ungleich die Zustände sind, entscheidet sich nicht an den großen, sondern an den kleinen, alltäglichen, praktischen Dingen. Manchmal mag die Frage bloß sein, an welchen Arbeitgeber man geraten ist - welchen Platz die Lotterie des Berufslebens einem also zugewiesen hat. Manchmal ist es aber auch so, dass nicht das Schicksal zuständig ist. In der Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft wird niemandem sein Platz einfach zugewiesen. Er wird einem aber auch nicht geschenkt.
Demokratie und soziale Marktwirtschaft heißt: Jeder muss die Möglichkeit haben, sich seinen Platz zu erkämpfen. Reiner Hoffmann, 61, seit gut zwei Jahren der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), sagt: "Wir können die Dinge selbst in die Hand nehmen. Aber nur, wenn wir ausreichend Power haben." Er meint die Arbeitnehmer und ihre Interessenvertretungen, die Gewerkschaften. Also fahren wir mit Hoffmann über Land, schauen wir, wie das mit der Power da und dort so ist.
Lektion 1
Wer Spezialist und gut organisiert ist, kann sich wehren: beim Autozulieferer in Maintal
Es gibt Produkte, die jeder hat, obwohl man von ihnen noch nie gehört hat. Schlauchschellen zum Beispiel. Jeder Autobesitzer besitzt im Grunde Schlauchschellen, sie befestigen im Motorraum die Schläuche an den Anschlüssen. Wer beim Autozulieferer Norma in Maintal, eine Viertelstunde östlich von Frankfurt, durch die Hallen läuft, der wird auf jedem Meter begleitet vom Stolz der Facharbeiter. Einer zeigt auf eine Maschine: "Drüben werden Federbandschellen produziert, und hier W5. Also echt hochwertig!"
Man muss nicht wissen, was W5 ist, um zu kapieren, dass hier Präzisionsarbeit geleistet wird - und dass gute Arbeitsbedingungen immer wieder bedroht sind. Von der Krise der Autobranche vor acht Jahren hat jeder gehört, von den permanenten Machtkämpfen der Autozulieferer mit den Autoherstellern auch. Bei Norma kam hinzu, dass die einstige Familienfirma vor zehn Jahren an einen Finanzinvestor verkauft worden war, der sie inzwischen an die Börse gebracht hat. Die Aktien sind im Streubesitz.
Von links nach rechts: Herr Hoffmann, Herr Ditzel und Frau Kailing
(Foto: DGB/Eric Baumann)Klaus Ditzel, der Betriebsratsvorsitzende, berichtet von seinen Kämpfen: wie das Management billige Schutzbrillen für die Arbeiter anschaffte - 1,99 Euro das Stück. Die Arbeiter hätten erst Kopfschmerzen bekommen müssen, dann hätten die Chefs eingewilligt, Brillen mit passenden Sehstärken zu beschaffen. Als es der Firma einmal schlechter ging, nutzte sie die Möglichkeit, die nächste Tariferhöhung um ein paar Monate auszusetzen, das war im Tarifvertrag für einen solchen Fall vorgesehen. Später wurden die Beträge nachgezahlt; "mit Zins und Zinseszins", sagt Ditzel.
Was waren die Voraussetzungen dafür? Es sind im Grunde immer dieselben: Erstens muss eine Firma überhaupt an den Tariflohn gebunden sein, andernfalls kann sie die Bezahlung ändern, wie der Chef es für richtig hält. Zweitens müssen genügend Arbeiter der Firma Mitglied in einer Gewerkschaft sein, im Fall von Norma der IG Metall. Reiner Hoffmann, der DGB-Chef, sagt: "Sozialpartner müssen konfliktfähig sein. Andernfalls kann Sozialpartnerschaft nicht funktionieren." Will sagen: Nur eine Gewerkschaft, die in einem Betrieb so viele Mitglieder hat, dass sie mit Streik zumindest drohen kann, wird für die Beschäftigten dort etwas erreichen. Und was für ein Glück, dass sie in Maintal so etwas wie W5 produzieren. Kann nicht jeder. Wer Spezialist ist, holt immer mehr für sich heraus als jemand, der austauschbar ist.
Lektion 2
Guter Chef, gute Gewerkschafter - aber es kommt auf jeden selbst an: beim Steine-Produzenten in Heuchelheim
Heuchelheim ist eine Gemeinde bei Gießen, 7500 Einwohner. Der Betrieb, zu dem es nun geht, produziert Steine aus Beton; die Promenade von Westerland ist mit Steinen der Firma Rinn ausgelegt, die Zeil in Frankfurt, die Bahnsteige des Hamburger Hauptbahnhofs. "Beim Rinn", wie man im Ort sagt, empfangen die drei Geschäftsführer sowie der Betriebsratsvorsitzende gemeinsam, und schon das ist ein Statement.
Rinn, das ist die Firma, die ihren Mitarbeitern die Fitness- und Entspannungskurse bezahlt, die Fluktuationsrate beträgt weniger als ein Prozent. Firmenchef Christian Rinn sagt, jede Neubesetzung einer Stelle kalkuliere er mit 30 000 Euro: die geringe Arbeitsfreude desjenigen, der sich zur Kündigung entschlossen hat, die Suche nach einem Nachfolger, die Einarbeitung. Diesen Betrag investiere er lieber in die Mitarbeiter, die er habe.
Von links nach rechts: Herr Hoffmann, Frau Kailing, Herr Rinn und Herr Körner
(Foto: DGB/Eric Baumann)Für Gewerkschaften ist Rinn sozusagen der Idealfall: die Kombination einer Belegschaft aus vielen Gewerkschaftsmitgliedern mit einem aufgeklärten Unternehmer, der wahrscheinlich nicht auf die Idee käme, bloß billige Schutzbrillen für 1,99 Euro anzuschaffen. Rinn ist die Firma, bei der man der Frage nachgehen kann, wie sehr die Menschen zur Eigenverantwortung bereit sind - über das hinaus, was eine Firma und eine Gewerkschaft für sie tun können.
Erwin Krauskopf ist der Vorsitzende des Betriebsrats, ein Endfünfziger, der Schlosser gelernt hat, aber inzwischen seit 30 Jahren diese Funktion wahrnimmt. Krauskopf berichtet von der betrieblichen Altersversorgung. Wer Teile seines Gehalts dafür investiert, dem gibt Rinn bis zu 26 Prozent dazu. Etwas mehr als jeder Zweite macht mit - was aber auch heißt: fast jeder Zweite nicht. Krauskopf erzählt, wie er manchmal an die Beschäftigten hinredet: "Was ist dir wichtiger, dass du die nächsten 20 Jahre jedes Jahr dreimal in Urlaub fährst, oder dass du mit 60 das Gefälle zwischen gesetzlicher Rente und Lohn ausgleichst?" Manchmal hat Krauskopf Erfolg, manchmal nicht. Einem Maschinenführer hat er neulich deswegen sarkastisch gesagt, er solle doch gleich zum nächsten Gully gehen und sein Geld hineinwerfen. Krauskopf kann das nicht verstehen: Geld zu ignorieren, das der Arbeitgeber einem anbietet.