Gewerkschaften: 60 Jahre DGB:Schutz vor dem Zeitgeist

Sie sind weder hip noch chic - und dennoch werden Gewerkschaften als Stimme der Zurückgelassenen benötigt. Nun gilt es, ihre Errungenschaften gegen die FDP zu verteidigen.

Detlef Esslinger

Es war ein unauffälliger Satz, irgendwo in der Mitte der Rede platziert, und er hörte sich an wie eine Floskel. "Wir Deutsche sollten erkennen, was wir an dem schon Erreichten haben", sprach Bundespräsident Horst Köhler am Montag in Berlin, "und wir sollten den Beitrag der Gewerkschaften dazu erkennen und zu schätzen wissen." Man nehme das Wort "Gewerkschaften" und tausche es gegen Rotes Kreuz, Sportbund oder Kirchen, und schon hat man einen Satz, der auch in jeder anderen Festrede viereinhalb Zeilen füllt.

DGB, Foto: dpa

DGB-Kundgebung am 8. Januar 1964. Am Montag hat der Deutsche Gewerkschaftsbund seinen 60. Geburtstag gefeiert.

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Zu dem Eindruck mag kommen, wer in seinem Leben schon mehr Ansprachen als Berufsjahre hinter sich gebracht hat. Tatsächlich aber passt der Satz zu keiner Organisation und auch zu keinem Zeitpunkt so gut wie zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), der - pünktlich zum Beginn der Koalitionsverhandlungen - den 60. Jahrestag seiner Gründung beging.

Gewerkschaften gelten nicht gerade als hip und chic. Zwar vereinen die acht Gewerkschaften des DGB immer noch fast 6,4 Millionen Menschen. Damit gehören sie weiterhin zu den großen Massenorganisationen der Republik, und weitaus mehr Mitglieder als sämtliche Parteien zusammen haben sie sowieso. Aber sie hatten schon einmal ganz andere Höhen erreicht: knapp acht Millionen Mitglieder vor der deutschen Einheit, knapp zwölf Millionen unmittelbar danach.

Gemessen daran, dass sich die Stärke von Gewerkschaften vor allem an der Zahl ihrer Mitglieder bemisst, waren die vergangenen zwanzig Jahre für den DGB desaströs. Inzwischen gelingt es mehreren Gewerkschaften, zum Beispiel der IG Metall und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, den Rückgang zu stoppen.

Doch wie wollen sie es schaffen, in anderen als ihren traditionellen Milieus wirklich Fuß zu fassen? Noch immer sind sie vor allem in der Industrie einflussreich, aber nach wie vor gelten sie bei Dienstleistern und bei IT-Spezialisten, bei Frauen und bei Jugendlichen als eher verzichtbar. Frei nach Köhler: Diese Berufsgruppen erkennen nicht, welchen Wert Gewerkschaften haben.

Gründe dafür gibt es viele. Der Politikwissenschaftler Franz Walter unterscheidet in der Arbeitnehmerwelt zwischen Aufsteigern und Zurückgelassenen. Die Aufsteiger sind diejenigen, die meinen, ihr eigenes Schicksal immer meistern zu können - oft sind sie übrigens die Kinder von Arbeitnehmern, die erst durch die Erfolge der Gewerkschafter seit den fünfziger Jahren ökonomisch in die Lage versetzt wurden, ihren Nachkommen eben jenen Aufstieg zu ermöglichen.

Die Zurückgelassenen sind diejenigen, die alle Zuversicht längst verloren haben und die auch Gewerkschaftern nicht zutrauen, sie wieder in Arbeit zu bringen oder an unzumutbaren Arbeitsbedingungen etwas zu ändern. Es verlangt möglicherweise eine hohe Kunst, diese Menschen anzusprechen. Aber noch nie wurden Gewerkschaftsführer nach Charisma und rednerischer Überzeugungskraft ausgesucht. Menschen mögen einst wegen Willy Brandt in die SPD eingetreten sein - aber wegen Klaus Zwickel in die IG Metall oder, heute, wegen Frank Bsirske zu Verdi? Der Hochmut der Aufsteiger, die Verzagtheit der Zurückgelassenen, die Ratlosigkeit der Gewerkschafter, das alles trägt dazu bei, dass der DGB heute nur noch gut halb so viele Menschen repräsentiert wie ehedem.

Mit der Folge, dass die Errungenschaften der Gewerkschaften nun Schutz vor dem Zeitgeist brauchen. Seit längerem ist es schick, den Kündigungsschutz als eine Ursache von Arbeitslosigkeit oder die Mitbestimmung als Nachteil für den Standort Deutschland darzustellen. Allerdings gehörte die Kritik an beidem solange zur Folklore im Wettbewerb der Parteien, wie die FDP im Bund nicht mitzureden hatte.

Nun aber hat sie ihre knapp 15 Prozent auch mit der Forderung erzielt, den Kündigungsschutz in all jenen Betrieben abzuschaffen, die weniger als 21 Mitarbeiter beschäftigen. Und in den Aufsichtsräten sollen die Arbeitnehmer nur noch ein Drittel statt der Hälfte der Mitglieder stellen; Mitbestimmung heißt in der Partei Westerwelles immer nur "Funktionärsmitbestimmung".

Mag sein, dass solche Positionen pure Ideologie sind. Mag sein, dass die Liberalen immer nur Kosten sehen, aber nie, dass zum Beispiel ein Arbeitnehmer, der jederzeit gekündigt werden kann, ein ängstlicher, also ein schlechter Mitarbeiter sein wird. Mag auch sein, dass die "Kultur der Mitbestimmung" (Köhler) der Grund ist, weshalb Streiks in Deutschlands so selten vorkommen und Betriebsbesetzungen hierzulande überhaupt nicht zum Repertoire der Arbeitnehmer gehören.

Das ändert aber alles nichts daran, dass die FDP nun, da sie wieder gebraucht wird, eine Trophäe präsentieren will (und dies wird nicht die Bundesagentur für Arbeit sein, deren Abschaffung sie auch noch fordert). Am Tag, an dem die Koalitionsverhandlungen begannen, ist der Bundespräsident diesem Zeitgeist und dieser Partei mit jenem Satz entgegengetreten, der eben doch keine Floskel war. Bei vielen Discountern arbeiten Menschen für 5,20 Euro in der Stunde. In vielen Ländern ist der Zwölf-Stunden-Tag und die Sieben-Tage-Woche die Regel. Was Gewerkschaften wert sind, erkennt man immer dort, wo es keine gibt.

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