Süddeutsche Zeitung

Gesundheitssystem:Alle in die Kasse

Immer mehr Selbstständige werden künftig wenig verdienen - und sich die private Krankenversicherung kaum leisten können. Ein neues Modell zeigt, wie das Problem gelöst werden könnte.

Von Guido Bohsem, Berlin

Es gibt ernst zu nehmende Wissenschaftler, die eine schwarze Zukunft des Arbeitsmarktes zeichnen. Der technische Fortschritt, die Digitalisierung und in einem Jahrzehnt vielleicht die künstliche Intelligenz drohen ihrer Meinung nach, massenweise Arbeitsplätze zu vernichten. Insbesondere die guten Jobs in der Mittelschicht seien in Gefahr. An ihre Stelle werde eine Arbeitsgesellschaft treten, die aus Klick-Selbstständigen bestehe - Geringverdienern, die sich von Auftrag zu Auftrag hangeln und relativ wenig verdienen. Noch geht die Zahl dieser Solo-Selbstständigen in Deutschland zurück. Doch das könnte am Ende des Wirtschaftsbooms ganz anders aussehen, wenn sich die traditionellen Jobs für die Arbeitgeber nicht mehr lohnen.

Eine besondere Herausforderung stellt dieses Szenario für die sozialen Sicherungssysteme dar. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will im Herbst mit einem Masterplan an die Öffentlichkeit, wie man die Herausforderungen einer neuen Arbeitswelt bewältigen kann, ohne die sozialen Errungenschaften in Deutschland aufzugeben. Um eine drohende Altersarmut von Kleinstselbstständigen zu verhindern denkt sie darüber nach, wie die gesetzliche Rentenversicherung auf Selbstständige übertragen werden kann. Auch in der Union werden die Stimmen lauter, die sich für ein solches Modell aussprechen.

Die Bertelsmann-Stiftung hat berechnet, wie die gesetzliche Versicherung attraktiver würde

In der Gesundheitspolitik gibt es ähnliche Überlegungen. Auch hier geht es darum, das gesetzliche System attraktiver für Selbstständige zu machen. Derzeit sind vielen Kleinselbstständigen nämlich die Mindestbeiträge für die Krankenkasse viel zu hoch. Nicht umsonst macht diese Gruppen einen erheblichen Teil bei der Frage aus, woher die etwa fünf Milliarden Euro Beitragsschulden stammen, die in der Krankenversicherung aufgelaufen sind.

Wer sich als Selbstständiger gesetzlich versichern möchte, muss einen Mindestbeitrag von 342 Euro bezahlen. Das heißt, die Krankenkassen gehen davon aus, dass jeder Selbstständige ein monatliches Mindestgehalt von knapp 2200 Euro erzielt. Für viele kleine Unternehmen und insbesondere für die Auftragsarbeiter der digitalen Wirtschaft ist ein regelmäßiges Brutto-Einkommen in dieser Höhe allerdings nicht realistisch.

Die Bertelsmann-Stiftung hat sich des Themas angenommen und untersucht, wie die gesetzliche Krankenversicherung für Selbstständige attraktiver werden könnte. Sie spricht sich dafür aus, den Mindestbeitrag abzuschaffen und die Selbstständigen genau wie auch die Angestellten nach der tatsächlichen Höhe ihres Einkommens zu versichern. Nach Angaben der Stiftung ist eine solche Regelung dringend notwendig. Denn die 20 Prozent der Selbstständigen mit den geringsten Einkommen geben laut einer Umfrage der Stiftung etwa die Hälfte ihres Einkommens für die Krankenversicherung aus.

Nach dem Modell der Bertelsmann-Stiftung kann sich als Selbstständiger weiterhin privat versichern, wer im Jahr über der sogenannten Versicherungspflichtgrenze liegt, die derzeit 56 250 Euro brutto ausmacht. Es ist aber auch möglich, freiwillig Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung zu werden. Eine Überlegung, die sich vor allem für Versicherte mit Kindern lohnt. Denn diese kann man gesetzlich kostenlos mitversichern, während in der privaten Krankenversicherung eine kostenpflichtige Versicherung notwendig ist.

Eine Umstellung des Systems führte nach Berechnungen der Stiftung dazu, dass fast eine Million der derzeit privat versicherten Selbstständigen zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wechseln würden. Schätzungsweise 80 000 Selbstständige gingen freiwillig in die GKV. Insgesamt würden gut eine Million Selbstständige mit ihren rund 318 000 Familienangehörigen aufgenommen. Der Anteil der gesetzlich versicherten Selbstständigen stiege damit von derzeit 57 auf insgesamt 88 Prozent.

Ein solches Modell führte lediglich zu geringen zusätzlichen Belastungen für die gesetzliche Krankenversicherung, so die Berechnungen der Stiftung. Je nach Umsetzung würde es zwischen 200 und 800 Millionen Euro im Jahr kosten, das Modell der Stiftung umzusetzen. Die Selbstständigen würden dadurch in entsprechender Höhe entlastet, nämlich um einen Betrag der bei 400 Millionen Euro oder 800 Millionen Euro liegt. "Selbstständige in den Solidarausgleich der GKV einzubeziehen, macht die Krankenversicherung insgesamt gerechter und verhindert soziale Härten am unteren Ende der Einkommensskala", sagt der Gesundheitsexperte der Stiftung, Stefan Etgeton.

Das Modell stößt in der Politik allerdings nicht auf Begeisterung. "Das ist ein nobler Ansatz, der aber zu den falschen Ergebnissen führt", sagt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Statt die Zwei-Klassenmedizin abzuschaffen, würde man so die Zwei-Klassenmedizin auch für Selbstständige einführen.

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SZ vom 06.07.2016
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