Süddeutsche Zeitung

Gesundheitsbranche:Das Recht auf Unvernunft

Lesezeit: 2 Min.

Es gibt mehr und mehr Daten über Patienten, doch das soll ihnen nicht schaden.

Von Kathrin Zinkant, Berlin

Der digitale Patient mag zuletzt etwas gekränkelt haben, allmählich aber haucht ihm eine wachsende Menge an gesundheitlichen Daten Leben ein. Klar ist, dass die Menschen durch Big Data medizinische Vorteile erfahren können: Rasche Diagnosen, präzise Therapien, abgestimmtes Handeln der Ärzte. Unklar bleibt, wie sauber sich der Patient dabei noch vom Kunden wird trennen lassen. Denn während der Markt der Gesundheits-Apps und schrittzählenden Uhren explodiert und mit ihm auch die Menge an Daten, die sich auf den Lebensstil beziehen, kann das öffentliche Gesundheitswesen mit Daten derzeit nur begrenzt etwas anfangen.

So wartet die ambulante Versorgung von Patienten nach wie vor auf ihre Vernetzung durch die seit Jahren geplante Telematikinfrastruktur - also auf das gemeinsame Netzwerk zum Austausch der Daten, ohne das die vorhandene elektronische Gesundheitskarte kein Speicher für Diagnosen, Medikationspläne und Krankheitsgeschichten ist, sondern bl0ß ein gewöhnlicher Versicherungsausweis. Erst Ende 2018 soll die Infrastruktur flächendeckend vorhanden sein, dann allerdings ohne Ausnahme. "Wer blockiert, wird sanktioniert", sagte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe auf dem SZ-Wirtschaftsgipfel in Berlin. Gemeinsam mit Vertretern des Gesundheitsmarktes diskutierte der Unionspolitiker eine Stunde lang über die Frage, ob sich eine digitale Medizin in Deutschland im Sinne der Patienten umsetzen lässt. Gröhe, so viel wurde auf dem Podium klar, ist zuversichtlich.

Als eine größere Baustelle erscheint dabei allerdings die Präzisionsmedizin. Genetische Analysen könnten die Krebsdiagnostik und -therapie zwar schon heute auf ein neues Niveau heben. Was aber fehlt, sind Qualitätsstandards und Netzwerke, die das Potenzial der Daten auch ausschöpfen können. "Wir machen in diesem Bereich Millimeterschritte", beklagte auf dem Berliner Gipfel Saskia Biskup von Cegat, einem Unternehmen für genetische Diagnostik in Tübingen. Seit Jahren kritisiert die Humangenetikerin vor allem die Kassen für die beschränkte Erstattungsfähigkeit der genetischen Tests. Auf dem Podium mit Gröhe sprach sie außerdem von einem "Wildwuchs der Labore". Einheitliche Anforderungen an die etwa 200 Anbieter in Deutschland seien eine Voraussetzung dafür, dass Tumordaten überhaupt vergleichbar würden.

Wenig zu klagen haben dagegen jene, die Produkte fürs Handgelenk verkaufen. 2,7 Millionen Smartwatches und Wearables werden dem Branchenverband Bitkom zufolge wohl in diesem Jahr über deutsche Ladentische wandern. Bisher messen die Geräte vornehmlich die Bewegung, zum Teil auch den Puls. So lassen sich Schlafgewohnheiten und Kalorienverbrauch verfolgen. Als Motivationshilfe gefällt das offenbar vielen Kunden. Die Aussicht aber, dass die selbst erhobenen Daten von den Kassen auf die Beiträge umgelegt werden könnten, treibt deutsche Versicherte nicht grundlos um. Die Münchner Generali bietet seit Juli eine Risikolebens- und Berufsunfähigkeitsversicherung mit niedrigen Beiträgen und Rabatten für jene Kunden an, die anhand von Wearables ihren Willen zur Fitness belegen. Dass dieses Konzept in private Krankenversicherungen einfließt, ist eine Frage der Zeit.

Was aber, wenn Wearables und Apps bald in der Lage sind, auch Alkohol- oder Medikamentenkonsum nachzuvollziehen? Gröhe hält der Angst den politischen Grundsatz entgegen. "Jeder gesetzlich Versicherte bekommt, was er braucht, und zwar unabhängig davon, wie hoch seine gesundheitlichen Risiken sind", sagte der Minister auf dem Podium. Das schließe Extremsportler und Raucher mit ein. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse, sprach auf der Veranstaltung gar von einem "Recht auf Unvernunft". Gröhe hob hervor, dass jeder Patient selbst darüber entscheide, welche Daten dem Arzt oder der Krebsdatenbank aus seiner Akte übermittelt würden. Oder auch dem Patienten selbst. Denn neben dem Recht auf Unvernunft sieht der Minister auch ein "Recht auf Nichtwissen".

Sollte er in der kommenden Legislaturperiode noch das gleiche Amt bekleiden, wird sich Gröhe an dieser Aussage womöglich messen lassen müssen.

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Quelle:
SZ vom 19.11.2016
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