Süddeutsche Zeitung

Ökonomisierung des Gesundheitswesen:Geld spielt bei der Gesundheit keine Rolle

Die Kliniken haben die Corona-Krise bisher gut überstanden. Aber ist es deshalb falsch, sie auch ökonomisch zu sehen?

Kolumne von Nikolaus Piper

Am 5. September 2019 veröffentlichte das Magazin Stern einen Aufruf von Ärzten aus der ganzen Republik gegen die Gesundheitspolitik der Bundesregierung. Der Aufruf stand unter der Überschrift "Mensch vor Profit" und wurde von mehr als 200 Medizinern und 19 Organisationen unterzeichnet. Unter ihnen waren Prominente, wie der Präsident des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery. "Die Logik der Ökonomie verdrängt den Ethos der Heilkunst", heißt es in dem Text. Als der Aufruf erschien, dachte noch niemand daran, dass binnen weniger Monate eine Pandemie das öffentliche Leben in weiten Teilen der Welt lahmlegen würden.

Bis Anfang Februar (da redete man bereits von Covid-19) war die Zahl der Unterzeichner auf mehr als 2800 gestiegen. Heute steht das deutsche Gesundheitswesen unter beispiellosem Stress, den es allerdings, jedenfalls bis jetzt, auf bewundernswerte Weise gemeistert hat - dank seiner qualifizierten Fachkräfte, aber auch dank der im internationalen Vergleich sehr guten Ausstattung von Kliniken und Arztpraxen.

Die Behauptung, das deutsche Gesundheitswesen sei "kaputtgespart" worden, ist derzeit also nicht sehr glaubwürdig. Trotzdem sind die Klagen über Neoliberalismus, Privatisierung und Ökonomisierung am Krankenbett weit verbreitet. Ökonominnen und Ökonomen sollten sich, so könnte man die öffentliche Meinung zusammenfassen, aus dem Thema Gesundheit am besten heraushalten. Aber was wäre, wenn sie das täten?

Man sollte sich sehr wohl mit der Rolle von Markt, Wettbewerb und Preisen im Gesundheitswesen befassen. In einigen Punkten haben die Ärzte mit ihrer Klage ja recht. Nur haben die nicht unbedingt etwas mit Ökonomie zu tun. Glücklicherweise gibt es ein sehr instruktives Dokument zum dem Thema, das einige wichtige Fragen beantworten kann.

Im Jahresgutachten 2018/2019 des Sachverständigenrates der Bundesregierung ("Fünf Weise"), veröffentlicht am 7. November 2018, findet sich ein eigenes Kapitel zur Reform des Gesundheitswesens von fast 50 Seiten. Unter dem Eindruck von Corona liest man es noch einmal mit ganz anderen Augen. Zum Beispiel erschließt sich unmittelbar, warum der ökonomische Blick auf das Gesundheitswesen so wichtig ist: nicht um "dem Markt" zu dienen, sondern um die Menschen vor Überforderung zu schützen und die Qualität der medizinischen Versorgung zu sichern, wenn es im Verhältnis immer mehr Alte in Deutschland zu versorgen gibt und wenn die Medizin immer besser - und damit teurer wird. Was das bedeuten kann, zeigt die Pandemie überaus deutlich.

Das Gesundheitswesen wurde nicht kaputtgespart, ganz im Gegenteil. Zwischen 1993 und 2017 stiegen die staatlichen Gesundheitsausgaben um 130 Prozent auf 230 Milliarden Euro, während die Gesamtausgaben des Staates nur um 70 Prozent stiegen. Insgesamt geben die Deutschen 11,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus, womit sie, nach Amerikanern und Schweizern, weltweit an dritter Stelle liegen. Auch die Bezahlung der Mitarbeiter besserte sich. Zwischen 2013 und 2017 stiegen die Tariflöhne im Gesundheitswesen um jährlich um 2,8 Prozent, mehr als in fast allen anderen Branchen.

Die Einführung von Fallpauschalen war ein Fehler. Trotzdem ist Kostensenkung nötig

Daran sollte man sich erinnern in diesen Tagen, da Geld im Gesundheitswesen keine Rolle zu spielen scheint. Natürlich ist es richtig, dass Kliniken und ihre Beschäftigten für den Kampf mit Corona so gut wie möglich ausgestattet werden. Nur ist der Glaube, deshalb spiele Geld keine Rolle, eine Illusion. Die Kosten des Gesundheitswesen müssen die Steuerzahler oder die Beitragszahler aufbringen. Im letzteren Fall drohen höhere Kassenbeiträge und damit höhere Arbeitskosten.

Eine Vorahnung von den in Zukunft drohenden Verteilungskämpfen bietet der Streit darum, wer den beschlossenen Corona-Bonus für Beschäftigte in der Altenpflege bezahlen muss, die öffentlichen Haushalte oder die Pflegeversicherung. Bei Abschluss dieser Kolumne war der Streit noch nicht entschieden.

Um einer Unterversorgung der Bevölkerung vorzubeugen, plädieren die Sachverständigen für mehr Wettbewerb und mehr Eigenverantwortlichkeit für die Krankenhäuser. Die Grenzen zwischen stationärer und ambulanter Versorgung sollte durchlässiger werden, fordert das Gutachten, große Krankenhäuser sollten gestärkt werden, kleine unter Umständen verschwinden.

Und in einem Punkt können sich die protestierenden Ärzte durch die Sachverständigen bestätigt sehen. Auch sie kritisieren die verhassten Fallpauschalen. Es führe zu Fehlanreizen, wenn Kliniken pro Leistung einen festen Betrag abrechnen, etwa für einen Blinddarm, eine Knieoperation oder einen Stent. Ein populäres Bonmot dazu geht so: Wenn die Feuerwehr pro gelöschtem Brand bezahlt würde und die Polizei pro überführtem Verbrecher, wie wäre es dann wohl um den Brandschutz und die innere Sicherheit bestellt?

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Am Ziel, das Gesundheitswesen effizienter zu machen, darf das aber nichts ändern: Die Sachverständigen konnten vor anderthalb Jahren, als sie ihr Gutachten verfassten, noch nichts von Covid-19 wissen. Damals warnten sie vor der finanziellen Belastung durch den demografischen Wandel und den Fortschritt der Medizin: "Die Vorhaltung überflüssiger Kapazitäten und Effizienzverluste bei der Verwendung der eingesetzten finanziellen Mittel können daher umso weniger toleriert werden."

Ausgerechnet die Pandemie zeigt jetzt, wie berechtigt diese Mahnung war. Umso wichtiger ist es, an die Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsleistungen gerade jetzt ökonomische Kriterien anzulegen. Geld spielt eben immer eine Rolle, auch wenn man es gerade nicht merkt.

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SZ vom 24.04.2020/mxh
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