Gesetzlicher Mindestlohn:Den Graben verkleinern

Es reicht nicht mehr für alle: Etwa ein Fünftel der Beschäftigten in Deutschland muss sich mit Niedriglohn begnügen - dabei verträgt die Marktwirtschaft einen Mindestlohn.

Thomas Öchsner

Das wiederentdeckte Schreckgespenst hat viele Gesichter: Das eines Zimmermädchens, das für 3,56 Euro die Stunde in Luxushotels reinigt. Eines Schlachters, der für fünf bis neun Euro Stundenlohn dänische Schweine in Deutschland zerlegt, weil er das viel billiger macht als seine Kollegen in Kopenhagen. Das eines Leiharbeiters, der Gebäude bewacht und schon froh ist, mit seinem Gehalt ein bisschen über Hartz IV zu liegen.

Mindestlohn, Fensterputzer; dpa

Etwa ein Fünftel der abhängig Beschäftigten muss sich mit einem Niedriglohn begnügen.

(Foto: Foto: dpa)

Im Land des Exportweltmeisters reicht es nicht mehr für alle. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist eine neue Unterschicht entstanden: 6,5 Millionen Menschen, etwa ein Fünftel der abhängig Beschäftigten, müssen sich mit einem Niedriglohn begnügen, wie eine Studie des Instituts "Arbeit und Qualifikation" der Universität Duisburg-Essen soeben offengelegt hat. Nicht alle von ihnen sind arm, aber die Vier-Fünftel-Gesellschaft ist ein Alarmzeichen.

Deutschland driftet auseinander. Ein Riss durchzieht die Republik, der längst tief in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht. Eine wachsende Zahl von Menschen hat Mühe, von dem zu leben, was sie ehrlich erarbeiten. Die meisten stecken in einer Abwärtsspirale, in der sich die Löhne stetig nach unten entwickeln. Doch damit sollte sich eine demokratische Gesellschaft nicht abfinden. Es geht um mehr als ein paar Euro mehr auf dem Gehaltszettel, es geht um das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft, deren Vater Ludwig Erhard einst "Wohlstand für alle" versprach, und die ökonomische Grundordnung der Nation.

Kurt Beck und seine Wünsche

Die Millionen Niedriglöhner, von denen inzwischen viele einen Vollzeitjob und eine abgeschlossene Berufsausbildung haben, sind die Schattenseite des letzten Aufschwungs am Arbeitsmarkt. Dessen Liberalisierung in Form von flexibleren Arbeitsverhältnissen, subventionierten Minijobs und Leiharbeit war politisch gewollt. Im Hochlohnland Deutschland wurde ein Niedriglohnsektor geschaffen - bis zum Ausbruch der Wirtschaftskrise mit enormem Erfolg.

2008 waren noch nie so viele Menschen in der Republik erwerbstätig. Die Zahl der Arbeitslosen sank unter drei Millionen. Es gab sogar ein paar Hunderttausend weniger Langzeitarbeitslose. Nun stellt sich die Frage, ob der Preis des Erfolgs zu hoch war. Die Antwort lautet: Eine Rolle rückwärts am Arbeitsmarkt ist nicht erforderlich, aber die Politik muss Niedriglöhner stärker unterstützen.

"Wer voll arbeitet, muss anständig leben können", sagt der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck von der SPD. Dies wäre zweifellos wünschenswert, Wunsch und Wirklichkeit stimmen allerdings leider selten überein. In einer Marktwirtschaft muss normalerweise jeder Arbeitnehmer die Kosten seines Arbeitsplatzes durch seine Produktivität erwirtschaften. Sonst wird der Job wegrationalisiert oder dahin verlagert, wo es billigere Arbeitskräfte gibt.

Solange es keine Planwirtschaft geben soll, können Politiker zwar Unternehmen zwingen, einen bestimmten Mindestlohn zu zahlen. Sie können Betriebe jedoch nicht dazu verdonnern, eine bestimmte Anzahl von Menschen zu diesem Wunschentgelt zu beschäftigen. Ist der festgelegte Mindestlohn zu hoch, vernichtet er deshalb Jobs. Das zeigt das Beispiel Frankreich, in dem eine zu hohe Lohnuntergrenze als wichtige Ursache für die hohe Jugendarbeitslosigkeit gilt.

Wildwest-Ökonomie grassiert

Das Ausbreiten des Niedriglohn-Sektors in Deutschland, die immer niedrigen Löhne für eine zunehmende Zahl von Vollzeitjobbern zeigen aber, dass sich die Machtverhältnisse zugunsten der Unternehmen verschoben haben. Arbeitgeber zerlegen ordentlich bezahlte Vollzeitjobs in schlecht bezahlte Minijobs. Sie gründen neue Gesellschaften, in denen ihre Mitarbeiter zu deutlich schlechteren Konditionen anheuern müssen. Sie setzen Leiharbeiter ein, um so Teile der teureren Stammbelegschaft zu ersetzen.

In vielen Bereichen der deutschen Wirtschaft grassiert inzwischen die Wildwest-Ökonomie. Die Unternehmen haben die Macht, Gehälter zu zahlen, die unterhalb der Produktivität des Arbeitnehmers liegen. In diesen Fällen wäre ein moderater Mindestlohn ein erster Schritt, um den Lohn wieder an den Wert zu rücken, den die geleistete Arbeit tatsächlich erbracht hat. Außerdem würde er die Möglichkeit der Arbeitgeber begrenzen, die Löhne mit dem Hinweis zu senken, die Mitarbeiter könnten ihr niedriges Einkommen durch staatliche Leistungen aufstocken, und so die Sozialkassen zu missbrauchen.

Es gibt keinen Anspruch auf soziale Gleichheit. Es gehört aber zu den Zielen des Sozialstaats, einen Mindestlebensstandard für alle Menschen zu sichern, die diesen nicht aus eigener Kraft erreichen können. Die Europäische Sozialcharta spricht auch von einem "Recht auf ein angemessenes Arbeitsentgelt".

Was das für die Millionen Niedriglöhner konkret bedeutet, sollte die nächste Bundesregierung festlegen. Nötig ist ein einheitlicher Mindestlohn, der mit einem intelligenten Kombilohnmodell zu verbinden ist, bei dem der Staat so wie jetzt schon auch Geld dazuschießt. Ein neuer Mindestlohn müsste aber wohl deutlich unter den 7,50 Euro pro Stunde liegen, die SPD und Gewerkschaften fordern, damit sich der Arbeitsplatz wirtschaftlich trägt. Denn wer seinen Job verliert, hat nichts von einem höheren Lohn.

Viele Bürger haben das Gefühl, es gehe in ihrem Land zunehmend ungerecht zu. Sie wählen nicht mehr und zweifeln an der Demokratie. Der bundesweite Mindestlohn wäre ein Beitrag, um den großen Graben zwischen oben und unten zumindest ein bisschen zu verkleinern.

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