Gesetzeslücke im deutschen Steuerrecht:Staatskasse verschenkt Milliarden

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Die britische Großbank Barclays soll den deutschen Fiskus um Hunderte Millionen Euro geprellt haben. Die Bank dementiert.

(Foto: Matt Cardy/Getty Images)

Das Bundesfinanzministerium hat fast zehn Jahre gebraucht, um ein Steuer-Schlupfloch beim Aktienhandel zu schließen. Viele Banker und deren Kompagnons nutzten die Zeit offenbar fleißig, um die Staatskasse zu plündern - darunter auch die britische Großbank Barclays. Mehr als zehn Milliarden Euro sollen weg sein.

Von Klaus Ott

Der erste Hinweis auf eine Gesetzeslücke, der das Bundesfinanzministerium hätte alarmieren müssen, datiert vom 20. Dezember 2002. Der Bundesverband deutscher Banken machte in einem Schreiben an das Finanzressort auf Probleme beim Aktienhandel aufmerksam. Das Schreiben war nur vier Seiten lang und für Leute vom Fach leicht zu verstehen. Die Kernbotschaft lautete: Geschäfte mit sogenannten Leerverkäufen von Aktien können dazu führen, dass der Fiskus hinterher mehr Steuern erstattet, als er vorher überhaupt kassiert hat.

Der letzte Gesetzes- und Verwaltungsakt von Bundesregierung und Bundestag, mit der dieses Steuerschlupfloch endgültig geschlossen wurde, greift seit dem 1. Januar 2012. Fast ein Jahrzehnt hat die Politik also gebraucht, um den Staat davor zu bewahren, bei bestimmten Aktiendeals ausgenommen zu werden wie eine Weihnachtsgans. Die lange Zeit dazwischen haben viele Banker und deren Kompagnons offenbar fleißig dazu genutzt, um die Staatskasse zu plündern. Mehr als zehn Milliarden Euro sollen weg sein.

Weil gleich drei Finanzminister versäumt haben, diesem Treiben Einhalt zu gebieten, oder nur zögerlich eingeschritten sind. Hans Eichel, Peer Steinbrück (beide SPD) und Wolfgang Schäuble (CDU). Kaum zu glauben, aber wahr.

Nun jagt der Fiskus seinem Geld hinterher. Rund 40 Steuerverfahren laufen alleine in Hessen. Große Institute wie die Hypo-Vereinsbank und die britische Barclays sollen zu Unrecht Steuer-Erstattungen kassiert haben (Barclays dementiert). Diese Verfahren sind sehr mühsam und hätten sich vermeiden lassen, wenn die Regierung rechtzeitig reagiert hätte. Schon der erste Hinweis war deutlich genug. Bei Börsengeschäften mit Leerverkäufen seien "zusätzliche Regelungen notwendig", damit der Fiskus die Kapitalertragsteuern bekomme, die sich der Erwerber der Aktien hinterher anrechnen lassen könne, notierte der Bankenverband Ende 2002 in seinem Schreiben an das Finanzressort. Wer die vier Seiten genau las, der wusste: Hier droht Gefahr für den Fiskus.

Rückzahlungen bei nicht gezahlten Steuern

Ein Leerverkäufer veräußert Aktien, die ihm noch nicht gehören und die er sich erst besorgen muss. Diese Besonderheit führte beim Handel mit Aktien kurz vor und nach Ausschüttung der Dividenden dazu, dass der Fiskus nicht mehr überschaute, wer wann Eigentümer der Papiere war, wer Kapitalertragsteuer gezahlt und wer Anspruch auf mögliche Rückzahlungen hatte. Die Folge: überhöhte Steuererstattungen. Wie sich das vermeiden ließe, dazu hatte der Bankenverband dem Finanzministerium Ende 2002 sogar einen ersten Vorschlag unterbreitet. Doch danach geschah lange Zeit erst einmal nichts.

Erst nach zwei Jahren, acht Monaten und neun Tagen, am 29. August 2005, leitete das Bundesfinanzministerium die Post des Bankenverbands an die Obersten Finanzbehörden der Bundesländer weiter. In einem Begleitschreiben hielt das Ministerium fest, der Bankenverband weise auf eine "fehlende gesetzliche Regelung zur Steuerpflicht von sogenannten Leerverkäufen" hin. Das Ministerium fügte hinzu, man beabsichtige, die "Problematik" mit den Ländern zu erörtern. Die Länder sind für den Steuervollzug zuständig und können nur solche Tricksereien bekämpfen, von denen sie wissen.

Die Aktientricks waren spätestens von 2006 an öffentlich bekannt. Ein Anwalt einer Großkanzlei schrieb in einem Aufsatz, "faktisch" würden mehr Steuern erstattet als bezahlt. Der Aufsatz beschäftigte sich mit den neuesten Plänen der Bundesregierung. Die wurde endlich aktiv und verhinderte per Gesetzesänderung von 2007 an weitere Tricksereien. Allerdings nur bei Aktiengeschäften mithilfe von inländischen Banken. Zudem enthielt die Gesetzesnovelle den Passus, die neuen Regeln dienten der "Verringerung von Steuerausfällen". Verringerung statt Verhinderung!

Windige Geschäftemacher verstanden das geradezu als Einladung, ihre Abzocke mithilfe ausländischer Banken fortzusetzen. Worauf das Finanzministerium am 5. Mai 2009 den Ländern mitteilte, in solchen Fällen seien die zu Unrecht erstatteten Steuern zurückzufordern. Dass derlei Fälle überhaupt nicht mehr vorkommen können, garantierte erst die nächste Gesetzesnovelle, die seit 2012 gilt.

Seitdem ist endlich auch das letzte Schlupfloch geschlossen: der Leerverkauf über das Ausland. Aber wieder war wertvolle Zeit verstrichen, in der Banken und Fonds zahlreiche weitere Geschäfte zulasten des Fiskus machten.

Die Finanzbranche habe ihre Informations- und Datenverarbeitung grundlegend umstellen müssen, deshalb habe die jüngste Gesetzesnovellierung so lange gedauert, sagt das Finanzministerium heute. Außerdem beteuert das Ministerium, man habe jeweils "unmittelbar reagiert", wenn man Hinweise auf womöglich unberechtigte Steueransprüche beim Leerverkauf von Aktien bekommen habe. Auf das Auslandsproblem bei solchen Deals, das sich später als die letzte Lücke erwies, hatte allerdings der Bankenverband schon Ende 2002 in seinem Schreiben an das Finanzressort deutlich hingewiesen. Damals hat niemand "unmittelbar" reagiert.

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