Geschönte Arbeitslosenzahlen:Seit Kohl wurde getrickst

Seit Jahrzehnten rechnen Politiker die Arbeitslosigkeit klein - mit beachtlichem Einfallsreichtum und immer neuen Förderprogrammen. Noch jede Regierung hat sich Tricks einfallen lassen, um die Statistik aufzubessern.

Nina Bovensiepen und Sibylle Haas

Mit jedem Tag fällt die Stimmung in der großen Koalition in Berlin gereizter aus. Und doch gibt es diese Woche einen Termin, auf den sich Olaf Scholz, der sozialdemokratische Minister für Arbeit und Soziales, freuen kann.

Geschönte Arbeitslosenzahlen: 1,5 Millionen Menschen tauchen in den offiziellen Statistiken nicht auf - obwohl sie arbeitslos sind.

1,5 Millionen Menschen tauchen in den offiziellen Statistiken nicht auf - obwohl sie arbeitslos sind.

(Foto: Foto: ddp)

Am Donnerstag wird die Bundesagentur für Arbeit ihre Zahlen für den Mai vorlegen - Experten haben keinen Zweifel, dass die Daten auch diesmal günstig ausfallen werden. Sogar noch günstiger als zuletzt, als die Nürnberger Behörde 3.413.921 Erwerbslose vermeldete. Solche Termine gefallen Olaf Scholz, zu denen er über Erfolge am Arbeitsmarkt sprechen darf.

Der Traum von der Vollbeschäftigung

Der Minister will ihn schließlich weiterträumen, den Traum von der Vollbeschäftigung. Den Traum, dass alle Menschen, die eine Arbeitsstelle suchen, auch eine Stelle finden. Fast alle träumen ihn wieder, diesen Traum. SPD-Chef Kurt Beck, ebenso sein Vize, Außenminister Frank-Walter Steinmeier.

Auch Unionspolitiker glauben fest daran, dass Vollbeschäftigung in Deutschland erreichbar ist: erst drei Millionen Arbeitslose, dann zwei Millionen, und so weiter. Vergessen scheint die Zeit, als SPD-Kanzler Gerhard Schröder einen politischen Offenbarungseid leisten musste, weil mehr als fünf Millionen Deutsche keinen Job finden konnten. Von diesen düsteren Tagen spricht heute, vor einer Serie von Wahlen, keiner mehr.

Und da ist noch etwas, an das die Regierenden in Berlin nicht gern erinnert werden: In Wahrheit sind es nicht 3.413.921 Menschen, die derzeit eine Arbeit suchen, so wie es die amtliche Statistik scheinbar akribisch ausweist. Tatsächlich würden weitere gut 1,5 Millionen Männer und Frauen eine reguläre Beschäftigung ergreifen, wenn sie denn eine fänden. Sie finden aber keine, und trotzdem tauchen sie in der Arbeitslosenstatistik nicht auf.

Seit Helmut Kohl wurde getrickst

Der seltsame Schwund liegt zu großen Teilen daran, dass mindestens seit den Zeiten des CDU-Kanzlers Helmut Kohl alle Regierungen mit Tricks und Kniffen die amtlichen Zahlen nach Kräften geschönt haben. In großem Einfallsreichtum schuf die Politik fragwürdige Arbeitsmarktprogramme, die oft auch das Ziel verfolgten, die Statistik kräftig aufzubessern. Außerdem gibt es 625.000 Menschen, die zur "stillen Reserve" gerechnet werden, weil sie sich, frustriert über ihre schlechten Vermittlungschancen, erst gar nicht bei den Arbeitsagenturen melden.

Zähle man alles zusammen, so sagt Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), "kommt man in Deutschland auf gut fünf Millionen Menschen, die gerne arbeiten würden". Das sind gut 1,5 Millionen mehr als in der amtlichen Statistik. Nur scheinbar hat alles seine Ordnung. Denn neben den offiziell arbeitslos Gemeldeten gibt es viele, die in sogenannten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen stecken, die also keinen richtigen Job haben. Sie gelten aber nicht als arbeitslos, weil sie staatlich gefördert werden und deshalb momentan auf dem Arbeitsmarkt nicht einsetzbar sind.

Eine Million Menschen fallen aus der Statistik

Wer einen Zuschuss bekommt, um eine Firma zu gründen, oder wer eine Weiterbildung auf Staatskosten macht, der fällt aus der Statistik - obwohl er sich wahrscheinlich als arbeitslos begreift. Das gilt ebenso für Ein-Euro-Jobber, die in Parkanlagen Wege bauen. Auch Leute, die in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) Stadtchroniken schreiben, tauchen in den offiziellen Zahlen nicht auf.

Selbst wer an einer Trainingsmaßnahme teilnimmt oder als Leiharbeiter bei einer Personal-Service-Agentur eingestellt wird, fällt aus dem Zahlenwerk heraus. Zusammen geht es um mehr als eine Million Menschen: Im April gab es laut der Bundesagentur 300.000 Ein-Euro-Jobber, fast 200.000 Menschen wurden vom Staat beim Weg in die Selbständigkeit unterstützt, 246.000 waren in einer Qualifizierungsmaßnahme und gut 300.000 nutzten die staatlich geförderte Altersteilzeit oder waren Arbeitslose im Vorruhestand.

Großzügigkeit, die sich auszahlt

Die statistischen Tricksereien haben Tradition in Deutschland. Sie sind ein Akt der Wählertäuschung, gelten aber als eine Art politisches Kavaliersdelikt. Das vermutlich dreisteste Beispiel stammt aus dem Jahr 1986. Damals regierte Helmut Kohl im dritten Jahr. 1987 stand die nächste Bundestagswahl an, in den Vorjahren war die Arbeitslosigkeit sprunghaft gestiegen - von 3,8 Prozent (1980) auf 9,3 Prozent (1985). Da beschloss die Regierung im Januar 1986 kurzerhand, dass über 58-Jährige künftig leichter Arbeitslosengeld bekommen sollten. Die Älteren müssten nicht einmal mehr einen zumutbaren Job annehmen - trotzdem sollten sie Unterstützung beziehen.

Eine Großzügigkeit, die sich auch für die Regierung auszahlte: Fortan wurden die Betroffenen wegen fehlender Verfügbarkeit auch nicht mehr als Erwerbslose erfasst. Diese sogenannte 58er-Regelung förderte in der Folge massiv den Frühverrentungstrend in deutschen Betrieben. Bis heute verzerrt sie zudem die Statistik: Derzeit nutzen laut Bundesagentur noch etwa 400.000 Menschen die Regelung.

Die nächste Beschönigungs-Operation unternahm die Kohl-Regierung im Frühjahr vor der Bundestagswahl 1998, die Arbeitslosigkeit im vereinigten Deutschland war auf über zwölf Prozent gestiegen. Prompt verkündete Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) ein 600 Millionen Mark schweres Arbeitsmarkt-Sonderprogramm für 100000 neue Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen - schon sah die Statistik wieder hübscher aus.

Auf der nächsten Seite: Auch Rot-Grün widerstand der Versuchung nicht.

Seit Kohl wurde getrickst

Aber auch Rot-Grün widerstand der Versuchung nicht. Die Regierung von Gerhard Schröder (SPD) sorgte dafür, dass seit Anfang 2004 Teilnehmer von Trainingsmaßnahmen nicht mehr im Zahlenwerk berücksichtigt werden. Im Februar 2004 senkte das die Arbeitslosenzahl auf einen Schlag um 89000.

Mit den Hartz-Gesetzen sorgte die rot-grüne Koalition später allerdings auch für mehr Ehrlichkeit in der Statistik. Seit Anfang 2005 tauchen beispielsweise frühere Sozialhilfeempfänger in den Daten auf, die vorher nicht eingerechnet waren. Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II werden nun alle Menschen erfasst, die arbeitsfähig sind.

Den Effekt dieser Neuordnung hatten Schröder und die Seinen kräftig unterschätzt. So war der Schrecken groß, als die Arbeitslosenzahl im Januar 2005 erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg auf mehr als fünf Millionen stieg. Der frühere Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) setzte sogar noch eins drauf: Er räumte damals ein, dass - wenn man auch die Betroffenen in Ausbildungs- und Förderprogrammen und im Vorruhestand mitzähle - etwa 6,5 Millionen Menschen in Deutschland "gravierende Probleme am Arbeitsmarkt" hätten. Von Vollbeschäftigung traute sich damals lange Zeit niemand mehr zu sprechen.

Der Dreh an der Statistikschraube

Das tun die Großkoalitionäre nun umso eifriger. Dabei widerstanden auch sie der Versuchung nicht, die Zahlen schöner zu machen, als sie in Wirklichkeit sind. Das zeigt sich konkret am Umgang mit der Blümschen 58er-Regelung. Anfang des Jahres haben SPD und Union dieses Frühverrentungs-Programm zwar eingedämmt.

Grundsätzlich können Ältere sich jetzt nicht mehr ohne Weiteres einer Vermittlung entziehen und trotzdem Hilfe bekommen. Konsequent war die Koalition aber nicht: Auch künftig fallen nämlich ältere Langzeitarbeitslose aus der Statistik, wenn ihnen innerhalb eines Jahres kein konkretes Job-Angebot gemacht werden kann. Ein halbherziger Schritt. IAB-Direktor Möller sagt dazu: "Das sind Entscheidungen, die ich nicht nachvollziehen kann. Da wird in der Tat an der Statistikschraube gedreht." Das weiß natürlich auch Arbeitsminister Scholz. Darüber wird er an diesem Donnerstag aber bestimmt nicht sprechen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: