Um zu verstehen, welche Folgen sich aus der heutigen Abstimmung im Europaparlament über das Handelsabkommen Acta ergeben, könnte man europäische und deutsche Urheberrechtstexte wälzen, man könnte den Lauf von Verhandlungen multilateraler Abkommen recherchieren - oder man sucht einfach einen Song der Hamburger Band Deichkind heraus.
Er trägt den Titel "Illegale Fans" und ist so etwas wie der Soundtrack zum illegalen Downloaden. Dessen Eindämmung hatte Acta unter anderem zum Ziel - mit unverhältnismäßigen Mitteln wie die zahlreichen Kritiker bemängeln, die Anfang des Jahres zur Überraschung der breiten Öffentlichkeit auf die Straße gingen. Ihrer Meinung nach hätte es Acta ermöglicht, Privatpersonen wegen Kopierens einer CD zu belangen oder es den Zollbehörden erlaubt, private Laptops zu durchsuchen.
Der Deichkind-Song handelt nicht von Provider-Haftung oder von härterer Rechtsdurchsetzung, er beschreibt vielmehr wie die illegale Nutzung von Tauschbörsen für eine wachsende Bevölkerungsgruppe zum popkulturellen Distinktionsmerkmal geworden ist. Weil ihre Lebensrealität kriminalisiert wird, reagieren sie mit Protest: "Keine Macht für niemand", heißt es in Anspielung auf den Ton Steine Scherben-Klassiker, "Wir werden uns nicht stellen. Ihr seid das Imperium, wir sind die Rebellen."
Digitaler Graben
Die Debatte um ein zukunftsfähiges Urheberrecht ist mittlerweile so verfahren, dass Bands bereits Songs darüber schreiben, die illegales Downloaden zum Kriterium für Coolsein erheben. So klingt es also, wenn man den digitalen Graben, der die Gesellschaft durchzieht, beständig ignoriert und den Herausforderungen der Zukunft lediglich die Rezepte der Vergangenheit entgegenzusetzen hat.
Es zählt zu den zahlreichen Paradoxien des digitalen Raums, dass Deichkind diesen Song übers illegale Downloaden sehr legal verkaufen - und nicht wenige Menschen ihr Album "Befehl von ganz unten" auch käuflich erworben haben. Sie treffen damit aber offenbar eine Stimmung, die sich bei den Anti-Acta-Demonstrationen Anfang Februar europaweit ausdrückte: der Widerstand gegen die Politik der Rechtsdurchsetzung der vergangenen Jahre, die im Fall von Acta von vielen als einseitiges Klüngeln großer Lobbygruppen wahrgenommen wurde.
Die Geheimverhandlungen zu Acta bestätigten ihnen den Eindruck, dass demokratische Spielregeln missachtet wurden, um einseitig Interessen durchzusetzen.
Die Reaktion der "Illegalen Fans": Sie erheben den Bruch urheberrechtlicher Spielregeln selber zum Coolness-Faktor. Sie erfreuen sich daran, auch bei Androhung noch härtere Strafen nicht greifbar zu sein und verlieren dabei die letzte Einsicht in die Notwendigkeit eines funktionierenden Urheberrechts. Angesehene Juristen wie Axel Metzger von der Uni Hannover fordern deshalb schon lange, "Druck aus dem Kessel zu nehmen" und die Politik der einseitigen Rechtsdurchsetzung zum Beispiel durch pauschale Abgabemodelle abzulösen. Alles andere würde die schwindende Einsicht ins Urheberrecht nur weiter minimieren.
Die heutige Entscheidung des Europaparlaments gegen Acta muss in diesem Zusammenhang als Hoffnungszeichen gewertet werden. Sie ist der Beweis dafür, dass demokratische Spielregeln sehr wohl gelten und sie ist die Aufforderung an alle gesellschaftlichen Gruppen, jetzt nach Lösungen zu suchen, diese Spielregeln im Urheberrecht auf eine legitimierte Grundlage zu stellen.
Kultureller Schaden
Dazu gehört zunächst, den illegalen Fans zu zeigen, dass in der Illegalität kein Zauber liegt, sondern kultureller Schaden. Das kann aber nur dann gelingen, wenn man die Auslöser für die vermeintliche Illegalität versteht. Man muss die Beweggründe und die Lebensrealität derjenigen anerkennen, die gegen Acta aufbegehrt haben - und daraus Schlüsse ziehen.
Spätestens mit dem heutigen Tag betritt ein Spieler die europäische Bühne, auf den sich die Politik erst einstellen muss: Die digitale Zivilgesellschaft hat in den vergangenen Monaten bewiesen, dass sie eine gewichtige Stimme in der Debatte um die Folgen der Digitalisierung ist.
Daraus erwächst jetzt auch einen gewichtige Verantwortung. Sie darf sich nicht dem Reflex hingeben, den die Band Deichkind nutzt. Es geht um mehr als darum, eine gesellschaftliche Stimmung zu bedienen. Es geht darum, Lösungen für ein Urheberrecht zu finden, das eine angemessene Vergütung sicherstellen kann, aber eben auch anerkannt wird von der Bevölkerung.