Süddeutsche Zeitung

Landwirtschaft:Wie der Milchmarkt Kühe krank macht

  • Immer mehr Kühe geben mehr als 10 000 Liter Milch pro Jahr, doch die Leistungssteigerung geht auf Kosten der Gesundheit der Kühe.
  • Gleichzeitig gibt es auf dem Weltmarkt so viel Milch, dass die Molkereien und der Einzelhandel in Deutschland die Preise unter die Produktionskosten drücken können - auf weniger als 30 Cent pro Liter.

Von Tanja Busse, Hamburg

Hätten die Züchter die Geschwindigkeit von Rennpferden in den letzten hundert Jahren so verbessert wie die Milchleistung der Kühe, dann könnten Pferde heute in der Formel 1 mithalten. Der Schweizer Milchbauer Martin Ott hat diesen Vergleich in seinem Buch "Kühe verstehen" gezogen, um zu zeigen, welche enorme züchterische Leistung hinter einer Hochleistungskuh steckt.

So sehr sich die Pferdezüchter bemüht haben: Rennpferde laufen heute nur wenig schneller als ihre Vorfahren. Milchkühe aber haben ihre Leistung im gleichen Zeitraum vervielfacht. Immer mehr Kühe geben gut 10 000 Liter Milch pro Jahr, der Rekord liegt bei mehr als 21 000. Für einen einzigen Liter Milch muss eine Kuh fünfhundert Liter Blut durch ihr Euter strömen lassen. Das Herz einer Hochleistungskuh pumpt am Tag 100 000 Liter Blut durch. Doch diese Leistungssteigerung hat einen Preis, das ist die Gesundheit der Kühe.

Viele Jahre lang haben das Tierärzte und Landwirte abgestritten, an Universitäten und in den Zuchtverbänden galt Leistung als Ausdruck von Gesundheit. Heute weiß man: Das mag für Rennpferde gelten, für Kühe aber stimmt es nicht.

"Bis zu 80 Prozent der Kühe erkranken innerhalb eines Jahres"

"Man hat Kühe gezüchtet, die Hilfsmittel brauchen, um gesund zu bleiben", so bringt der Tierarzt Holger Martens die Entwicklung auf den Punkt. Er ist emeritierter Professor für Tier-Physiologie an der Freien Universität Berlin und seine Forschung hat ihn zum Kritiker der Hochleistungszucht gemacht. "Bis zu achtzig Prozent der Kühe erkranken innerhalb eines Jahres."

Das Euter einer Hochleistungskuh kann innerhalb weniger Minuten zwanzig bis dreißig Liter Milch an die Melkmaschine abgeben, doch dazu brauchen sie große Zitzenöffnungen. Die aber können Bakterien nicht gut abwehren. Deshalb behandeln beinahe alle Milchbauern ihre Kühe mit Antibiotika, wenn sie etwa sechs bis acht Wochen vor der Geburt mit dem Melken aufhören. Trockenstellen nennen sie das, in der Zeit ist das Euter besonders empfindlich. Die nächste kritische Phase beginnt kurz nach der Geburt: "Die Kuh ist genetisch so veranlagt, dass sie dem Kalb ihre Energie für die Milchbildung zur Verfügung stellt", erklärt Martens, "Ihre Futteraufnahme entspricht in dieser Zeit aber nicht ihrem Bedarf." Negative Energiebilanz nennen das Tierärzte, wenn die Kuh mehr Energie in die Milchproduktion steckt, als sie durch das Futter aufnehmen kann.

Das ist eine Folge der Evolution: Die Au-erochsenkuh, die Urahnin des modernen Hausrinds, zog sich nach der Geburt in den Wald zurück, um sich um ihr Kalb zu kümmern. Es war überlebenswichtig für das Kalb, dass die Mutter genug Milch gab, auch wenn sie selbst nicht genug Futter fand. Die Kuh mobilisierte also alle ihre Energiereserven. "Das war ursprünglich kein Problem für die Kuh", sagt Martens, "weil das Kalb in den ersten Tagen und Wochen gar nicht so viel Hunger und Durst hatte, dass es seiner Mutter hätte schaden können." Doch in der modernen kälberlosen Milchproduktion fällt diese natürliche Grenze weg. Das Melkgeschirr saugt so lange an den Zitzen, bis kein Tropfen mehr kommt. Milchkühe nehmen nach der Geburt bis zu fünfzig Kilo ab - und geben trotzdem immer weiter Milch.

"Die Züchter haben die genetischen Fähigkeit der Kuh zur Milchbildung bei unzureichender Futteraufnahme genutzt und sogar noch verstärkt", kritisiert Martens, "ohne zu berücksichtigen, dass die Kuh keine natürliche Bremse hat." Sie haben Kühe ausgewählt, die sehr schnell nach der Geburt sehr viel Milch gaben, aber nicht beachtet, ob die milchleistungsstarken Kühe in dieser Zeit auch gut und viel fraßen.

Deshalb gerät der Stoffwechsel der Kühe während der etwa 300 Tage dauernden Melkperiode an seine Grenzen. Das macht sie anfällig für Euter- und Gebärmutterentzündungen, Labmagenverlagerungen und Lahmheiten - schmerzhaft für die Kuh und teuer für den Landwirt. Um die gefährliche Stoffwechselkrankheit Ketose zu behandeln oder ihr vorzubeugen, setzen manche Landwirte das umstrittene Antibiotikum Kexxtone ein. Mehr als 70 000 Kühe wurden damit im vergangenen Jahr behandelt. Die Umweltorganisation Greenpeace nennt das "billiges Doping" , sie vermutet, dass manche Landwirte den Wirkstoff auch missbräuchlich zur Leistungssteigerung einsetzen.

Gelingt es den Erzeugern nicht die Produktion zu drosseln, fallen die Preise weiter

Kirsten Wosnitza und ihr Mann Gert Albertsen, die 120 schwarzbunte Holstein-Friesian-Kühe auf ihrem Hof in Nordfriesland halten, investieren viel Zeit und Mühe, um möglichst ohne solche Hilfsmittel auszukommen. So können ihre Kühe Tag und Nacht auf die Weide, was bei Hochleistungskühen die Ausnahme ist. "Kexxtone haben wir erst viermal eingesetzt, bei älteren Problemkühen", berichten sie. "Normalerweise verwenden wir antibiotikafreie Mittel mit Propylenglykol, wenn die Kuh Anzeichen von Ketose zeigt und krank zu werden droht." Propylenglykol ist als Zusatzstoff für Kaugummis zugelassen und als Nebelmittel in Discotheken. Den meisten Kühen schmeckt es nicht, und es kostet viel Zeit, es ihnen einzugeben.

Als Milchbauern sind die beiden erfolgreich: Ihre Kühe geben im Durchschnitt mehr als 10 000 Liter Milch im Jahr und werden trotzdem sehr alt, dennoch sehen Wosnitza und Albertsen die Entwicklung in den Kuhställen sehr kritisch: "Die Hochleistungskuh ist nicht fehlertolerant: Schon kleine Fehler in der Fütterung oder bei der Haltung können sie krank machen." Mit viel Zeit und Arbeitseinsatz können Landwirte auch Hochleistungskühe gesund halten, sagen sie, trotzdem zweifeln Wosnitza und Albertsen, ob das System insgesamt nachhaltig ist. "Wer das Leistungsvermögen seiner Kühe voll ausschöpfen und seine Tiere gesund erhalten will, stößt als Landwirt oft selbst an die Grenze seines eigenen Leistungsvermögens." Vor allem wenn die Milchpreise so niedrig sind wie im vergangenen halben Jahr, stehen die Landwirte unter enormem Druck. Und Krisen wie diese kommen immer wieder.

Es ist eine absurde Situation: Auf den Höfen leben Kühe, die so viel Milch geben, dass sie davon krank werden. Gleichzeitig gibt es auf dem Weltmarkt so viel Milch, dass die Molkereien und der Einzelhandel in Deutschland die Preise unter die Produktionskosten drücken können - auf weniger als 30 Cent pro Liter. Das wiederum zwingt die Bauern, alles aus ihren Kühen herauszuholen, weil sie ihre laufenden Kosten decken müssen und oft auch hohe Kredite abzahlen müssen. Milchbauern können ihre Milch nicht lagern wie Ackerbauern das Getreide, um später zu einem besseren Preis zu verkaufen, und sie können die Produktion auch nicht kurzfristig drosseln und die Kühe einfach nicht melken. Das wissen die Molkereien, sie nutzen das aktuelle Überangebot an Milch, um die Preise weiter zu drücken.

Zusammen mit den europäischen Partnerverbänden hat der Bund deutscher Milchviehhalter BDM einen Vorschlag erarbeitet, um solch einen ruinösen Preisverfall in Zukunft zu verhindern: Die Bauern selbst sollen mithilfe einer freiwilligen Deckelung in Krisenzeiten die Milchmenge steuern, was nur funktioniert, wenn alle europäischen Milchproduktionsländer mitziehen. Doch die Molkereien und der einflussreiche Deutsche Bauernverband lehnen das ab. Stattdessen fordert der Bauernverband ein Nothilfepaket für die darbenden Milchbauern von der Politik. Das würde zwar kurzfristig helfen, doch nichts am riskanten System der Hochleistungsproduktion ändern.

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Quelle:
SZ vom 21.08.2015/ratz
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