Süddeutsche Zeitung

Gerechtigkeit als Wahlkampfthema:Wem was zusteht

Die Frage ist immer da gewesen, derzeit hat sie Konjunktur: Wer verdient was? Verbreitet ist die Ansicht, dass es in Deutschland nicht mehr gerecht zugehe. So verbreitet, dass sie im Bundestagswahlkampf eine wichtige Rolle spielen wird. Aber was ist gerecht? Und was sollen Politiker versprechen?

Ein Essay von Marc Beise

Das ist nicht gerecht! Oder: Das ist nicht fair! Rufen schon die Kinder, und rufen sie ihr ganzes Leben lang, manche mehr, manche weniger. Menschen wollen, dass es gerecht zugeht, schon immer. Der große Aristoteles hat das Thema vor 2300 Jahren behandelt, vor ihm schon Sokrates, nach ihm Cicero, Augustinus, die Staatsdenker der Aufklärung, Marx, Hayek, die ganze Kohorte der Dichter und Denker. In der Gegenwart nahmen und nehmen Einfluss, um nur wenige zu nennen, der Amerikaner John Rawls, der Deutsche Jürgen Habermas, der Inder Amartya Sen.

Verfassungsrechtlich ist die Bundesrepublik Deutschland, wie Manager sagen würden, "gut aufgestellt". Die Gerechtigkeit hat Verfassungsrang. Das Wort an sich kommt schon in Artikel 1 des Grundgesetzes vor, freilich sehr grundsätzlich und erst am Ende des zweiten Absatzes: "Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt."

Konkreter spürt man die Gerechtigkeit ungenannt an anderen Stellen der Verfassung, vor allem im Gleichheitsartikel 3. Und die Sozialstaatsklausel der Artikel 20 ("Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat") und 28 bedeutet nach allgemeiner Auffassung, abgesichert durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass der Staat für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen hat.

Vielleicht die wichtigste Rolle im Wahlkampf

Das Thema ist immer da gewesen, aber es hat mal mehr Konjunktur, mal weniger. Derzeit wohl eher mehr, das zeigen Umfragen, und es deckt sich mit der allgemeinen Lebenserfahrung. Dass es im Deutschland des 21. Jahrhunderts nicht (mehr) gerecht zugehe, ist eine verbreitete Ansicht. So verbreitet, dass sie mutmaßlich im bald anhebenden Bundestagswahlkampf eine wichtige, vielleicht die wichtigste Rolle spielen wird.

Denn darum wird es ja gehen in diesem Wahlkampf: Die Parteien danach zu beurteilen, wo und wie sie künftig die begrenzten Ressourcen des Staats einsetzen wollen, Gesetze machen, Geld zur Verfügung stellen. Dafür freilich muss man wissen, wo die Not am größten ist, wo es um der Gerechtigkeit willen zu handeln gilt.

Ein kleines Quiz, zwölf Fragen, zu beantworten mit Ja oder Nein: Ist es gerecht, dass die Einkommen sich immer weiter spreizen? Dass manche Arbeitnehmer 2000 Euro im Monat bekommen und andere 400 000 Euro? Das der eine Manager eine Millionenabfindung bekommt, obwohl er gescheitert ist? Und der andere eine Millionenzahlung sogar als Antrittsgeld? Ist es gerecht, dass Banker schon wieder Boni erhalten, obwohl die Finanzkrise noch gar nicht bewältigt ist? Oder, dass die heute aktive Generation die Umwelt zerstört, in der ihre Nachfahren leben müssen? Ist es gerecht, um auf Artikel 1 des Grundgesetzes zurückzukommen, dass die Deutschen im Wohlstand leben, während in weiten Teilen Afrikas weiterhin blankes Elend herrscht?

Erbschaften zu 100 Prozent besteuern?

Oder anders gefragt für die Mehrheit der Leser garantiert provokativer: Ist es gerecht, dass mancher Empfänger von Sozialleistungen mehr Geld bekommt als einige Arbeitnehmer mit Vollzeitjob? Dass mancher "Hartzer" sich erfolgreich vor jedem Job drückt? Dass die heutige Arbeitsgeneration im besten Lebealter mit maximal 67 in Rente geht, und die Kinder das alles finanzieren müssen? Ist es gerecht, wenn der Fiskus Besserverdienern nicht nur mehr als anderen, sondern in aller Summe mehr als die Hälfte wegsteuert?

Was wäre, um zwei Extreme zu nennen, gerechter: die Erbschaftsteuer abzuschaffen, weil sie ja auf schon versteuertes Einkommen erneut zugreift und dem Denken in Familientraditionen widerspricht? Oder sie auf 100 Prozent zu erhöhen, weil Erbschaften nicht selbst erarbeitet, kein eigenes Verdienst, sondern geschenkt sind?

Diese Fragen und die unterschiedlichen Antworten, die darauf garantiert gegeben werden, nicht zu zählen die jeweils differenzierten Erwägungen nach dem Motto "Es kommt drauf an" zeigen doch vor allem eins: Es gibt die eine Gerechtigkeit nicht, es gibt immer nur die Gerechtigkeit im Auge und Kopf des Einzelnen - im demokratischen Prozess dann addiert zur Mehrheitsmeinung. Was gerecht ist, bestimmen das Vorverständnis und die konkrete Lebenslage des Beurteilers. Gerechtigkeit ist, je nach geistiger Beweglichkeit des Urteilenden, eine Frage des Bauchgefühls oder des Geistes, meist von beidem.

Die Bedingungen von Gerechtigkeit gehören zu den meistdiskutierten Fragen der Wissenschaft. Und sind dennoch ungelöst. Die Theorie kennt viele Formen der Gerechtigkeit, locker ein Dutzend. Verteilungsgerechtigkeit, Gleichberechtigung, Leistungsgerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit, Regelgerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Umweltgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit und so weiter. Je mehr Äußerungen zur Gerechtigkeitsdebatte man aber scannt, desto offensichtlicher ist, dass es den meisten Menschen am Ende dann doch um eine ganz bestimmte Spielart von Gerechtigkeit geht. Gemeint ist die Verteilungsfrage, das Geld: Wie viel habe ich? Wie viel der andere?

Diese Verteilungs- oder Einkommensgerechtigkeit berührt sich mit einem anderen großen Postulat der Menschheitsgeschichte: der Gleichheit. Man kann eine völlig gleiche für die gerechteste aller Gesellschaften halten. Oder gerade nicht.

Wer "einen Markt hat", bekommt mehr

In der öffentlichen Debatte hat die Einkommensgerechtigkeit einen anderen Gerechtigkeitsbegriff abgehängt: den der Leistungsgerechtigkeit. Bei dieser kommt es eben nicht darauf an, wer wie viel hat, sondern wer wie viel leistet. Der Mensch erhält nicht das, was er braucht, sondern das, was er verdient, was er erwirtschaftet. Kurz: Wer mehr leistet, bekommt mehr. Weil er fleißiger ist, innovativer, erfindungsreicher. Oder einfach nur, weil seine Fähigkeiten knapp sind, weil er "einen Markt hat", wie der frühere Vortragsreisende Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat der SPD anfangs seine vergleichsweise stattlichen Rednerhonorare verteidigt hat.

Er hat das bald gelassen und den reuigen Sünder gespielt, weil er erkannt hat, dass das Argument des Marktes in der Öffentlichkeit nicht gelitten ist. Leistungsgerechtigkeit gehört heute zum Schmuddelvokabular. Man hängt es der FDP an und stellt dann beide, Prinzip und Partei, in die Ecke.

Anderen Gerechtigkeitsformen geht es da besser. Wirklich? Zwei Beispiele:

Erstens die Bedarfsgerechtigkeit: Es ist - in Deutschland - allgemein anerkannt, dass in einem Sozialstaat jeder Mann und jede Frau und vor allem jedes Kind ausreichend ausgestattet sein muss, um am gesellschaftlichen Leben in Würde teilnehmen zu können. Das kann man das sozio-kulturelle Existenzminimum nennen, wir sind hier im Kernbereich des Sozialstaatsprinzips des Grundgesetzes. Wer schwächelt, dem hilft der Staat. Die Transfersysteme sind hier einschlägig und die Nichtbesteuerung des Existenzminimums. So weit, so klar. Aber: Wie groß die Alimentierung sein muss, ob Hartz IV ungerechter ist als das frühere System von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, wie hoch die Regelsätze zu sein haben, das steht weder im Grundgesetz noch in der Definition der Bedarfsgerechtigkeit. Was ist die Referenzgröße: das Durchschnittseinkommen aller? Die Bezüge der Manager? Die Not in anderen Teilen der Welt?

Zweitens die Generationengerechtigkeit: Ein herrliches Wort und nahezu unangreifbar. Wer wollte heute noch bestreiten, dass Nachhaltigkeit mehr ist als ein Fachterminus aus der Wald- und Forstwirtschaft? Das umlagefinanzierte Rentensystem ist gelebte Generationengerechtigkeit: Die Arbeitnehmer von heute finanzieren jenen von gestern den Lebensabend. So weit, so klar. Aber: Die heute Arbeitenden werden ihren Lebensabend nicht mehr im gleichen Umfang finanziert bekommen, wie sie dies ihren Vorgängern ermöglicht haben. Warum? Weil seit Längerem schon, genauer: seit den herzerwärmenden Siebzigerjahren (Willy Brandt: "Wir wollen mehr Demokratie wagen"), die Deutschen auf Kosten der nachkommenden Generation leben: immer höhere Sozialleistungen, immer höhere Schulden, immer mehr Umweltbelastungen. Generationengerechtigkeit? Bestimmt nicht!

Besser gelitten ist dagegen die Regelgerechtigkeit. Sie wird weder kritisiert noch über Gebühr ignoriert. Die Spielregeln des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenlebens gelten ohne Ansehen der Person, dafür stehen Rechtsordnung und Justiz gerade. Und übrigens auch die ordnungspolitisch ausgestaltete Marktwirtschaft: Freiheit für Bürger und Unternehmen, aber in einem klar definierten gesetzlich vorgegebenen und gerichtlich überprüfbaren Rahmen. Konkretisiert beispielsweise durch das Kartellrecht, dass wirtschaftliche Macht begrenzt, wo sie überhand nimmt. Kaum jemand stellt das - bei aller Diskussion im Einzelfall - grundsätzlich infrage.

Dass ausgerechnet die Regelgerechtigkeit am ehesten konsensfähig ist, ist hochinteressant für die Frage, wie man mit den vielen Gerechtigkeitsbegriffen und -wertungen umgehen kann. Auf sicherstem Boden ist man offensichtlich bei formalen Gerechtigkeitskriterien, über alles andere kann man endlos diskutieren.

Urmutter aller Gerechtigkeitsformen

Womit eine weitere Spielart in den Blick kommt, die Chancengerechtigkeit. Hier geht es nicht um die Verteilung von Gütern und Leistungen, sondern um die Verteilung der Möglichkeiten und Fähigkeiten, sich seinen Platz in der Gesellschaft zu erarbeiten. Die Chancengerechtigkeit kann man begreifen als die Urmutter aller Gerechtigkeitsformen: Sie steht am Anfang, sie bedingt andere Gerechtigkeitsfragen.

Das entspricht dem freiheitlich gedachten Mensch und umgekehrt der Rolle des Staates in einem freiheitlichen System. Ein Staat, der Rahmen setzt, aber nicht mitspielt. Nicht Laissez-faire wie manchmal noch in den USA, nicht Planwirtschaft wie früher in der DDR: Dieser Staat kann Gerechtigkeit am besten fördern, wenn er Verfahren absichert und Chancen garantiert.

Damit ist klar, was der Staat im saturierten Deutschland vor allem tun muss, wofür er Gesetze erlassen und Geld zur Verfügung stellen muss. Er muss Chancengerechtigkeit fördern. Konkret: in Bildung investieren. Kinder fördern, Betreuung organisieren, Schulen verbessern, das Bildungssystem durchlässiger machen. Besser lässt sich Gerechtigkeit nicht organisieren.

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Quelle:
SZ vom 30.03.2013
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