Gentrifizierung:Wo große Firmen normale Bürger verdrängen

FILE PHOTO: The logo of Amazon is seen at the company logistics centre in Boves

Amazon hat nach monatelangem Ringen entschieden, wo es seinen zweiten Hauptsitz bauen will.

(Foto: REUTERS)

Amazon baut einen zweiten Firmensitz. Doch der Jubel ist verfrüht: Oft leiden die normalen Bürger, wenn große Tech-Firmen in ihre Städte ziehen - weil Steuergelder fehlen und Mieten steigen.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Wer wissen möchte, wie Gewinner aussehen, der sollte mal nach Sparks fahren. Die Kleinstadt im US-Bundesstaat Nevada liegt zwischen Reno und dem Tahoe Reno Industrial Center, dem nach eigenen Dafürhalten größten Industriegebiet der Welt. Der Elektroautohersteller Tesla hat dort in der Wüste seine Gigafactory 1 gebaut, das nach eigenen Angaben von der Grundfläche her größte Gebäude der Welt. Allein diese Selbstüberhöhungen zeigen, dass alles gigantisch sein soll in dieser Gegend, die Technik-Unternehmen Google, Switch, Blockchains und Panasonic sind gekommen, FedEx, Petsmart und Walmart haben Logistikzentren errichtet. So sehen Sieger aus.

"Ich bin hier gefangen", sagt Katherine Pope. Sie ist eine 69 Jahre alte Rentnerin, die vor ein paar Jahren nach Sparks gezogen ist, weil sie geglaubt hatte, sich ein Leben in dieser Stadt leisten zu können. In den vergangenen fünf Jahren allerdings sind die Lebenshaltungskosten in Sparks immens gestiegen, weil der Zuzug der bekannten Unternehmen für einen Aufschwung gesorgt hat, mit dem die Infrastruktur nicht mithalten kann. Die Mieten sind in den vergangenen zwölf Monaten um mehr als zehn Prozent gestiegen, ein durchschnittliches Einfamilienhaus kostet mittlerweile mehr als 400 000 Dollar - vor einem Jahr waren es noch 330 000 Dollar. Kleine Kneipen und Boutiquen weichen Filialen gigantischer Ketten, es gibt hippe Restaurants für die, die sich das leisten können. So sieht Gentrifizierung aus.

Pope musste aus ihrer Wohnung ausziehen, weil die Miete um mehr als 300 Dollar pro Monat erhöht wurde, sie lebt nun in einem Motel für 700 Dollar im Monat und ist auf Spenden angewiesen: "Es gibt Tage, da kann ich mir nichts zu essen kaufen. Es ist deprimierend, weil die Menschlichkeit verschwunden ist. Ich kann aber auch nicht weg, weil ich mir den Umzug nicht leisten kann. So geht es vielen hier." Nicht weit vom Motel entfernt gibt es den Campingplatz River's Edge, hier wohnen viele Leute, die keine Anstellung in einem der gigantischen Unternehmen gefunden haben und von Wohnungen in Wohnwagen umziehen mussten. Sie haben einen Begriff dafür, was da in Sparks passiert ist: "tesla'd".

Die Städte locken mit Subventionen - das Geld fehlt dann anderswo

Sind Long Island City und Crystal City nun also Gewinner, weil sich Amazon nach einem 13 Monate dauernden und teils bizarr anmutenden Bewerberzirkus entschieden hat, die neue Firmenzentrale HQ2 zwischen den Vororten von New York und Washington D. C. aufzuteilen? Insgesamt sollen 50 000 Arbeitsplätze mit einem jährlichen Durchschnittslohn von 100 000 Dollar geschaffen werden, dazu soll es Investitionen in Milliardenhöhe geben. Sehen so Sieger aus? Oder werden Long Island City und Crystal City in ein paar Jahren feststellen, dass sie "amazoned" sind?

Es gibt eine Stadt im Nordwesten der USA, die ist bereits "amazoned". Und "microsofted". Und "starbucked". Seattle ist mal eine Arbeiterstadt gewesen, ohne die urbanen Probleme der Industrie-Metropolen im Mittleren Westen oder an der Ostküste. Dann gründete Bill Gates den Computerkonzern Microsoft, Jeff Bezos startete den Alles-Lieferanten Amazon und Howard Schultz die Kaffeehauskette Starbucks. Es kamen hoch qualifizierte Leute, und die wollten das Geld, das sie verdienten, auch ausgeben. Seattle war plötzlich nicht mehr dreckig und melancholisch, sondern hip und erfolgreich - zumindest für all jene, die sich das leisten können, also Ingenieure, Programmierer, Manager. Was aber ist mit Taxifahrern, Bedienungen, Putzleuten, die sich das alles nicht mehr leisten können, weil ein 50-Quadratmeter-Zimmer in dieser Stadt mittlerweile knapp 2000 Dollar kostet?

Viele Städte machen einen schlechten Deal

"Arbeitsplätze sind wie Gold, man sollte den Aufschwung keinesfalls verteufeln", sagt David Bley, der in Seattle Bürgermeister beraten hat und nun die Pacific-Northwest-Initiative der Bill & Melinda Gates Foundation leitet, die gegen Armut von Familien im US-Bundesstaat Washington kämpft: "Städte müssen sich jedoch intensiv damit beschäftigen, wie sie mit dem Wachstum umgehen - und was sie dafür opfern." Die Frage laute stets: Wer braucht wen mehr?

Es ist ein Kuhhandel, den viele Städte und Bundesstaaten mit diesen Unternehmen eingehen, die ja nicht deshalb dorthin kommen, weil das Wasser dort besonders sauber ist oder der Burger besonders lecker schmeckt. Die Konzerne profitieren von Steuererleichterungen und Subventionen, günstigem Bauland und anderen Annehmlichkeiten. Amazon zum Beispiel soll von den Bundesstaaten New York und Virginia mehr als zwei Milliarden Dollar an Steuererleichterungen bekommen, wenn es im Gegenzug ausreichend Arbeitsplätze schafft. Tesla soll in Nevada etwa 1,3 Milliarden Dollar erhalten, der taiwanische Handybauer Foxconn von Wisconsin gar 4,8 Milliarden Dollar.

Die Gouverneure dieser Bundesstaaten rühmen sich gerne damit, gut bezahlte und zukunftsträchtige Arbeitsplätze zu schaffen, die Ausgaben rechtfertigen sie mit zu erwartenden Steuereinnahmen. Das kommt prima an, gerade im Wahlkampf, und wenn sich später herausstellt, dass zum Beispiel Tesla ein paar seiner Steuervergünstigungen (laut Los Angeles Times bislang 131 Millionen Dollar, insgesamt sollen es 163 Millionen werden) an Casino-Betreiber in Nevada verkauft und so die Quartalszahlen verbessert, dann wird das als notwendiges Übel abgetan.

Etwas bitter kommentiert Nevadas Finanzminister Dan Schwartz in diesem Fall: "Dafür kommt dann der Steuerzahler auf, wenn er Straßen, Schulen und Krankenhäuser will und es kein Geld dafür gibt." Den Konzernen selbst gibt er allerdings kaum Schuld, sie würden lediglich vom Wettbieten profitieren: "Ich bin dagegen, dass Städte und Bundesstaaten sich gegenseitig überbieten - und dann kein Geld mehr für den Ausbau der Infrastruktur habe", sagt Schwartz. Wer den Unternehmen zu viel anbiete, der werde recht schnell feststellen, dass er kein Sieger sei.

So war das auch in Venice Beach. Die Strandstadt im Westen von Los Angeles beheimatete jahrelang Snap, die Muttergesellschaft des Messaging-Dienstes Snapchat und wurde so zum Symbol für "Silicon Beach", der sonnigeren Variante des Silicon Valley im Norden Kaliforniens. Es wurde aber auch zu einem Symbol für Gentrifizierung, weil plötzlich nicht mehr nur coole Künstler in Venice Beach lebten, sondern zunehmend Programmierer und Ingenieure. Die Bewohner haben sich gewehrt gegen das expandierende Unternehmen, und im März ist Snapchat weitergezogen ins benachbarte Santa Monica, das sich nun als Sieger fühlt. In Venice Beach dagegen, da haben sie nach dem Wegzug eine Party gefeiert, als wären sie einen Parasiten losgeworden. So sehen Sieger aus.

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