Im Vergleich zu Justin Bieber bewegt sich das brasilianische Geistermädchen auf rechtlich sicherem Terrain. "Der extrem unheimliche Fahrstuhl-Streich" eines TV-Senders, indem eine versteckte Kamera die Panik von Menschen aufnimmt, wenn im Aufzug plötzlich das Licht ausgeht und ein blasses Kind neben ihnen auftaucht, haben auf dem Videoportal Youtube fast 60 Millionen Menschen gesehen. Darunter dürften auch viele Deutsche sein.
Teenie-Sänger Justin Bieber ist dagegen hierzulande nicht auf Youtube zu sehen. Seine erfolgreichsten Videos hängen wie die vieler anderer Künstler unsichtbar fest in der Geisterwelt, die der Rechtsstreit zwischen Youtube und dem Rechteverwerter Gema geschaffen hat.
Viele Videos - wie auch "Gangnam Style", das beliebteste Video aller Zeiten - können deutsche Youtube-Nutzer nicht sehen, dafür den Hinweis: "Dieses Video ist in Deutschland nicht verfügbar, weil es möglicherweise Musik enthält, für die die erforderlichen Musikrechte von der Gema nicht eingeräumt wurden." Mehr als 60 Prozent der meist geklickten Videos der Welt sind in Deutschland deshalb nicht zu sehen.
Am Wochenende wurde bekannt, dass die Gema eine Unterlassungsklage eingereicht hat, mit der sie Youtube diese Sperrtafeln verbieten will. Für sie sind die Tafeln "reine Stimmungsmache", mit der Youtube die Gema als Schuldigen für die Sperrungen hinstellen wolle. Gema-Sprecherin Ursula Goebel sagt: "Die Sperrungen sind aus unserer Sicht eine Kampagne von Youtube, um die Öffentlichkeit in den Verhandlungen gegen die Gema aufzubringen."
Die Datenjournalisten von Opendatacity haben die 1000 beliebtesten Videos auf Youtube ausgewertet und festgestellt: In Deutschland sind die weltweit mit Abstand meisten Videos gesperrt. 615 der der beliebtesten 1000 sind nicht verfügbar. Zum Vergleich: Südsudan sperrt die zweitmeisten Videos, nämlich 152. Im Vatikan sind 51 blockiert, in Afghanistan 44. Die Recherche wurde von Opendatacity vor längerer Zeit begonnen und wird mittlerweile vom Youtube-Konkurrenten Myvideo unterstützt.
Der Streit zwischen Youtube und Gema steht symptomatisch dafür, wie das Urheberrecht aus der analogen Welt an der digitalen Wirklichkeit kollidiert. 2009 lief die Vereinbarung der beiden aus, mit welcher die Gema Geld für die Urheber ihre Werke sichert. Sie ist dafür zuständig, Musikern ihren Anteil am Geld zu beschaffen, das andere mit der Verwertung und Verbreitung ihrer Musik verdienen. Die Organisation inszeniert sich als deutscher David gegen den transnationalen Riesen Google, dem Youtube gehört. Sie will in Deutschland deutlich mehr Geld von Youtube, als Verwertungsgesellschaften in anderen Staaten mit Youtube ausgehandelt haben: 0,00375 Euro jedes Mal, wenn ein Video eines Künstlers, den sie vertritt, gestreamt wird. Das wäre mehr als das Dreifache von dem, was zum Beispiel britische Verwerter bekommen.
Youtube dagegen präsentiert sich als Vertreter der Informations- und Kunstfreiheit für die Masse, der den Usern alle ihre Lieblingsvideos zeigen würde (vor welche die Firma Werbung schaltet und so Geld verdient), wenn die Gema sich nicht aus Knauserei zwischen Fan und Musikvideo stellen würde. Wichtigstes Mittel sind dabei die Sperrtafeln.
"Wir sperren jegliche Premium-Musik" sagt Youtube-Sprecherin Mounira Latrache. Die Gema könnte das ja verhindern: "Wir wissen gar nicht, über welche Rechte die Gema verfügt. Würde uns die Gema eine Liste der Lieder geben, für deren Rechte sie zuständig ist, würde uns das helfen." Laut Paragraph 10 des Urheberrechtswahrnehmungsgesetzes ist die Gema als Verwertungsgesellschaft verpflichtet, "jedermann auf schriftliches Verlangen Auskunft darüber zu geben, ob sie Nutzungsrechte an einem bestimmten Werk" wahrnimmt. Gema-Sprecherin Goebel will keinen Zusammenhang zwischen einer möglichen Liste und den Tafeln sehen: "Wir selbst sperren nicht, deshalb würde es gar keinen Sinn machen, ihnen eine Liste zukommen zu lassen."
Mit den Sperrhinweisen will Youtube sich vor Schadenersatzforderungen schützen. Die will die Gema seit Mitte Januar vor dem Deutschen Patent- und Markenamt durchsetzen. Sie möchte 1,6 Millionen Euro. Die Schiedsstelle soll prüfen, ob die von ihr verlangte Mindestvergütung von 0,00375 Euro angemessen sei, und zwar exemplarisch auf der Basis von 1000 Videos.
Als Google vergangene Woche seine Jahreszahlen veröffentlichte, protzte das Unternehmen damit, wie viel Geld das beliebteste Video dem Konzern eingebracht hat: Werbung, die vor "Gangnam Style" geschaltet wurde, brachte der Firma demnach acht Millionen Dollar ein, ganz ohne Beteiligung deutscher User. Das deutet Youtube-Sprecherin Latrache als Argument für die Freigabe aller Videos - was aus ihrer Sicht an der Gema scheitert: "'Gangnam Style' hat gezeigt, dass Videos nicht nur Riesenwerbeeinnahmen generieren können, sondern auch als Promotion für den Künstler dienen." Wenn die Gema ihre Künstler da nicht mitverdienen lasse, sei sie also selbst schuld. Dabei liegt die Freigabe der Videos in Deutschland in Googles Hand - allerdings verbunden mit dem Risiko, verklagt zu werden.
Auf den wenigsten Sperrtafeln steht klar, wessen Rechte verletzt werden, zum Beispiel der Name des betroffenen Labels. Von den in Deutschland gesperrten 615 Videos enthalten 531 den Hinweis, "möglicherweise" von der Gema geschützten Inhalt zu enthalten. Youtube geht einfach grundsätzlich davon aus, dass die Lieder die Rechte von Künstlern enthalten, welche die Gema vertritt. Aus der Gema heißt es: "Bis auf die zwölf Titel aus dem Musterverfahren sperren wir nichts." Dabei geht es um den Prozess von 2012, in dem die Gema exemplarisch Lieder sperren ließ, darunter keine aktuellen Hits sondern Schlager wie "Zwei kleine Italiener". Das Hamburger Landgericht entschied damals, dass Youtube zwar auf Aufforderung der Gema einzelne Videos löschen müsse, aber nicht verpflichtet sei, jeden Clip schon beim Hochladen auf Gebührenpflicht zu überprüfen.
Manche Juristen sind der Meinung, die Formulierung, Rechte der Gema seien "möglicherweise" berührt, sei astrein. Sie schwärze die Gema überhaupt nicht an, sondern trage nur "der bestehenden Rechtsunsicherheit Rechnung" ( mehr zum Rechtsstreit, allerdings mit starker Pro-Youtube-Ausrichtung). Fakt ist allerdings: Durch den Verweis wird die Gema mit Videos in Verbindung gebracht, mit denen sie - eben möglicherweise - überhaupt nichts zu tun hat. Goebel sagt: "Ich bekomme tagtäglich Anfragen. Erst gestern rief eine Nutzerin an, warum wir ein bestimmtes Video gesperrt hätten. Ich habe es ihr erklärt. Aber ich kann es nicht 80 Millionen Bürgern erklären."
Würden die Firmen wenigstens einmal klären, um welche Songs es überhaupt geht, könnten die User mehr Videos sehen. Die Sperrtafeln erleichtern es sowohl Youtube als auch der Gema, sich als Opfer zu präsentieren. Videos schauen die Deutschen solange auf anderen Plattformen.