Süddeutsche Zeitung

Geldpolitik:Wer von Negativzinsen profitiert

Dem Internationalen Währungsfonds zufolge nützt es den meisten Verbrauchern und Firmen, dass die Notenbanken ihre Leitsätze teils unter null gesenkt haben.

Von Claus Hulverscheidt, Berlin

Börsencrashs, Bankenzusammenbrüche, Menschen, die ihr Geld daheim unter dem Kopfkissen verstecken: Als die großen Notenbanken 2012 damit begannen, ihre Leitzinsen erstmals unter null Prozent zu senken, überschlugen sich viele Experten geradezu mit Warnungen und düsteren Prognosen. Am Mittwoch nun hat der Internationale Währungsfonds (IWF) eine erste umfassende Studie zu den Wirkungen vorgelegt, die der neue geldpolitische Ansatz auf Banken, Firmen und Verbraucher hat, und das Fazit lautet: Negative Leitzinsen tragen, wie erhofft, dazu bei, Kreditvergabe und Konjunktur anzukurbeln und einen allgemeinen Preisverfall zu verhindern - die gefürchtete Deflation. Zugleich haben sich die Ängste vieler Fachleute nicht oder nur in geringem Ausmaß bewahrheitet. "Es war auf jeden Fall richtig, das Instrument in den Instrumentenkasten aufzunehmen", sagt Gaston Gelos, Leiter der Abteilung Geldpolitik beim IWF, im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung.

Auf den ersten Blick, das gesteht auch Gelos ein, stellen Negativzinsen das Finanzwesen auf den Kopf. Denn die Idee ist ja, vereinfacht gesagt: Bürger und Betriebe bringen ihr Erspartes zur Bank und erhalten dafür eine Vergütung in Form von Zinsen, die Bank wiederum verleiht das Geld dorthin, wo es sinnvoll investiert werden kann. Diesen Mechanismus, so lautet ein verbreiteter Vorwurf, haben die Zentralbanken mit ihren Negativzinsen zerstört.

Die Notenbanken sind nicht Verursacher, sondern Leidtragende

Aus Sicht von Gelos jedoch geht in der Debatte einiges durcheinander. Wichtig ist aus seiner Sicht zunächst die Feststellung, dass die Kapitalmarktzinsen bereits seit Mitte der Achtzigerjahre weltweit zurückgehen - nach Ansicht von Experten unter anderem deshalb, weil in alternden Gesellschaften meist mehr gespart als investiert wird. Damit sank aber auch der für die Notenbanken so entscheidende sogenannte neutrale Zins, jener Satz also, bei dem eine Volkswirtschaft Vollbeschäftigung vermeldet, ohne zugleich mit stark fallenden oder steigenden Preisen konfrontiert zu sein.

Für die Geldpolitik heißt das, dass ihr Spielraum, die Preisentwicklung in diese oder jene Richtung zu beeinflussen, dramatisch geschrumpft ist. "Wenn die Wirtschaft in früheren Jahren einbrach, senkten die Notenbanken den Leitzins typischerweise um vier, fünf Punkte. Wenn aber der neutrale Zinssatz nur noch bei einem oder zwei Prozent liegt, dann ist nicht mehr viel Raum für Senkungen, ohne dass man in die Nähe der Nulllinie kommt", sagt Gelos. Ohne ein Durchbrechen dieser Linie hätten die Notenbanken also keine Möglichkeit mehr gehabt, die Konjunktur mit Mitteln der klassischen Geldpolitik zu stimulieren. Entgegen mancher Kritik sind sie also nicht Verursacher der allgemeinen Zinsentwicklung, sondern Leidtragende.

Hinzu kommt ein zweites Missverständnis. "Ich verstehe, dass die ganze Idee negativer Zinsen für viele Bürger schwer verständlich ist. Was aber oft vergessen wird: Ob ich Geld gewinne oder verliere, wenn ich es zur Bank bringe, hängt ja nicht nur vom Zinssatz ab, sondern auch von der Inflation", so Gelos. "Was nutzt mir ein Nominalzins von drei Prozent, wenn die Inflationsrate bei vier Prozent liegt - mein Geld verliert dann trotz positivem Zins an Wert." Tatsächlich gab es solche Phasen negativer Realzinsen schon oft - gerade auch zu den Zeiten, als die viel verehrte Deutsche Bundesbank noch verantwortlich war. Es fiel den meisten Bürgern nur nicht auf, weil der Nominalzins ja stets positiv war.

Der IWF gesteht in seiner Analyse durchaus ein, dass dauerhaft niedrige Marktzinsen grundsätzlich Gefahren für die Stabilität des Finanzsystems mit sich bringen. So müssen etwa Anleger ihr Geld heute in riskantere Anlagen stecken als früher, wenn sie ordentliche Erträge erwirtschaften wollen. "Das ist in gewissem Maße allerdings sogar erwünscht, denn wir wollen ja die Wirtschaft stimulieren", sagt Gelos. "Wir müssen nur darauf achten, dass das nicht in zu hohe Schulden und Spekulationsblasen mündet." Bislang allerdings gebe es keine Hinweise darauf, dass sich die Risiken mit dem Durchbrechen der Nulllinie bei den Leitzinsen signifikant erhöht hätten.

Ähnlich differenziert sieht das auch Bundesbankpräsident Jens Weidmann: Er hält den negativen Einlagensatz der Europäischen Zentralbank (EZB) für ein Kriseninstrument, dessen Potenzial noch nicht einmal notwendigerweise ausgeschöpft sein muss. Zugleich verweist er aber auf Risiken für die Finanzstabilität und mögliche Rückwirkungen auf die Preise, die mit dem Niedrigzinsumfeld verbunden sind.

Die Bürger sind nicht nur Sparer, sondern oft auch Bauherren

Schon viel gewonnen wäre aus Sicht des IWF, wenn in der Diskussion nicht immer wieder eine einzelne Maßnahme aus dem Zusammenhang gerissen, sondern mehr das große Ganze betrachtet würde. Ein Bürger etwa sei ja nicht nur ein Sparer, dem man die Zinsen gestrichen hat, sagt Gelos. "Er ist meistens auch Arbeitnehmer, Steuerzahler und vielleicht auch Bauherr." Soll heißen: Ein und derselbe Mensch leidet zwar unter den Krisenmaßnahmen, er profitiert aber zugleich davon. Denn was nützte es, wenn die Notenbank beidrehte und trotz aller Risiken wieder Positivzinsen einführte? Er erhielte dann zwar womöglich auf dem Tagesgeldkonto wieder Zinsen, verlöre wegen der hereinbrechenden Rezession aber vielleicht zugleich seinen Job.

Dass im Übrigen fast alle Bürger und Unternehmen trotz niedriger oder gar negativer Zinsen bisher darauf verzichtet haben, ihr Geld vom Konto abzuheben, hat laut IWF nicht zuletzt ganz handfeste Gründe. "Bargeld in größerem Ausmaß zu horten, beinhaltet ja auch Transport-, Lager- und Versicherungskosten", sagt Gelos. Oder einfacher ausgedrückt: Wer das Ersparte unter dem Kopfkissen vor der Zinsflaute verstecken will, sollte gute Nerven haben - und eine hochmoderne Alarmanlage.

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