Geldanlage:Zocken statt lernen

Weil an vielen Schulen Aktienmärkte kein Thema sind, lernen Jugendliche die Finanzwelt durch Börsenspiele kennen - und das oft als Zerrbild.

Von Julian Rodemann

Als Paul Schäpertöns erfuhr, was sein Freund Marius Meyer getan hatte, wollte er ihm zunächst "am liebsten den Hals umdrehen", erzählt er lachend. Meyer hatte Anfang Oktober 2016 Aktien der Deutschen Bank ins gemeinsame Depot geholt - kurz nachdem bekannt geworden war, dass die Bank in den USA weitere Strafen zahlen muss. Die Aktien waren abgestürzt und Meyer hatte sie zum Spottpreis gekauft. Damals fürchteten so manche, die Deutsche Bank könnte pleitegehen. Doch das war ein Trugschluss. Die Freunde hatten Glück: Die Aktie erholte sich, verdoppelte sich fast bis zum Jahresende. Die beiden sahnten ab.

Schäpertöns und Meyer sind keine professionellen Aktienhändler; die Papiere der Deutschen Bank haben sie nicht wirklich gekauft, sondern nur im Planspiel Börse der Sparkasse Niederrhein. Geld kassierten sie dennoch: Mit ihrer Strategie gewannen sie 1000 Euro, den Preis für den ersten Platz. Wenn Schäpertöns und Meyer, beide 18, nicht gerade mit Aktien spielen, sitzen sie hinter unverputzten Backsteinwänden im Klassenzimmer der Hermann-Runge-Gesamtschule in Moers. Von ihrem Lehrer in Sozialwissenschaften waren die Abiturienten auf das Börsenspiel der Sparkasse aufmerksam gemacht worden. Das Planspiel Börse wird seit 1983 angeboten und ist das größte Börsenspiel in Europa. Über eine Million Schüler und Studenten haben bisher mitgemacht.

Daneben gibt es in jüngster Zeit immer mehr Online-Börsenspiele und Trading-Apps fürs Handy, mit denen täglich Tausende Jugendliche spielen. Viele kommen so zum ersten Mal mit der Finanzwelt in Kontakt, denn im Unterricht wird der Aktienmarkt oft ausgespart. Das birgt Risiken, bei vielen Apps verläuft die Grenze zwischen Spiel und Ernst fließend. Wenn man sich etwa in das Börsenspiel Plus 500 einloggt, öffnet sich ein Fenster: "Gewinn im Demo-Modus: 8366 Euro. Wechseln Sie zum Handel mit echtem Geld und erhalten Sie einen Bonus von 25 Euro", steht da. So lockt das Spiel die Nutzer, reale Geschäfte abzuschließen. "Prinzipiell ist die Selbsteinschätzung der Finanzkompetenz bei Schülern eher schlecht", warnt der Wirtschaftspädagoge Jürgen Seifried von der Universität Mannheim. Wenn sie kurzfristig Gewinne machen, überschätzen sie eventuell ihr Finanzwissen und gehen an der echten Börse ebenfalls hohe Risiken ein. Auf der anderen Seite könnten große Verluste aber auch zur Ablehnung von Aktien führen, "die in dieser Form nicht gerechtfertigt wäre", so Seifried.

Besonders beliebt ist die App BUX, über 100 000 Nutzer haben sie auf ihrem Handy installiert. Auf den ersten Blick sieht die App aus wie eine Mischung aus Whatsapp und Snapchat: Knallige Farben, intuitive Bedienung, der Werbespruch lautet "Trade wie die Big Boys".

Tom Louis Zorn aus Hamburg nutzt die App seit einem halben Jahr regelmäßig. Der 20-Jährige handelt bisher nur mit Spielgeld, sogenannten "Funbux" - mit Erfolg: Er habe seinen Anfangseinsatz zwischenzeitlich verzehnfacht, erzählt er. Weil es so gut läuft, will Zorn bald auf echtes Geld umsteigen, in der App heißt das "Seriousbux".

Wie viele junge Erwachsene kam der 20-Jährige durch die App zum ersten Mal mit der Börse in Kontakt. In der Schule habe er "null" über Finanzmärkte und Geldanlage gelernt, erzählt er. Damit ist Tom Louis Zorn nicht allein, in einer Studie des Marktforschungsinstituts Ipsos gaben über 80 Prozent der Deutschen an, in der Schule keine Finanzbildung erhalten zu haben. Die Gefahr ist offensichtlich: Ohne Vorwissen glauben einige junge Menschen, die Börse funktioniere wie eine bunte Zocker-App. "Es entsteht ein Zerrbild" sagt Wirtschaftspädagoge Seifried.

Im Prinzip ist so ein Börsenspiel eine gute Sache - spielerisch können Jugendliche die Börse kennen lernen, fiktive Aktien kaufen und verkaufen. Sie verfolgen die Dax-Entwicklung und beginnen, sich für Unternehmen zu interessieren. "Doch jedes Börsenspiel ist nur so gut wie die Reflektion", sagt Wirtschaftspädagoge Seifried. Wenn ein Börsenspiel nicht didaktisch, also von ausgebildeten Lehrern, begleitet werde, könne es gefährlich werden.

Das Planspiel Börse sei nicht im Unterrichtet begleitet worden, erzählen Paul Schäptertöns und Marius Meyer. Damit steht die Herrmann-Runge-Gesamtschule nicht alleine da.

Laut einer Studie der Weltbank und der amerikanischen George-Washington-Universität gilt einer von drei Deutschen als "finanzieller Analphabet". Besonders Jugendlichen fehlt es an Grundwissen. In einer Umfrage des Bankenverbands konnten knapp 60 Prozent der 14- bis 24-Jährigen nicht sagen, was "Rendite" bedeutet.

In Baden-Württemberg wird Wirtschaft ab dem kommenden Schuljahr erstmals als Pflichtfach an Haupt- und Realschulen unterrichtet, ab Herbst 2018 auch an Gymnasien. Im neuen Bildungsplan taucht das Wort Aktie allerdings nicht ein einziges Mal auf, die Börse wird lediglich recht allgemein als "Ort des Aufeinandertreffens von Angebot und Nachfrage" aufgeführt. Ob Aktien behandelt werden, liegt vor allem an den Lehrern.

Baden-Württemberg ist keine Ausnahme, in den meisten Bundesländern steht Wirtschaft als Pflichtfach nur im Verbund mit Erdkunde, Politik oder Sozialkunde im Lehrplan - und wird häufig von Politikwissenschaftlern oder Soziologen unterrichtet. Nicht wenige Lehrer versuchen, das Thema Wirtschaft aus der Schule herauszuhalten. Der Philologenverband Baden-Württemberg sprach sich gegen das eigenständige Fach Wirtschaft aus. Ökonomische Fragen müssten in "Gesellschaft, Natur und Politik" eingebettet werden. Man fürchtet zudem - nicht zu Unrecht -, dass Unternehmen Einfluss auf die Lehrinhalte nehmen könnten und Schüler so Konzerninteressen ausgeliefert werden. Doch andersherum könnte man auch fragen: Wer schützt junge Erwachsene, wenn sie von App-Betreibern zu spekulativen Börsengeschäften verführt werden?

Seifried, früher selbst Lehrer, weißt auf ein weiteres Problem hin: "Bei den meisten Börsenspielen steht der kurzfristige Gewinn im Vordergrund." Die Grafiken bei der Simulations-App Plus500 beispielsweise zeigen in der Standardeinstellung den Chartverlauf der vergangen zwei Stunden. Auswählen kann der Nutzer dann maximal die Darstellung der vergangenen Woche, eine Monats- oder Jahresübersicht gibt es nicht. Dass Aktien für Normalsparer vor allem als langfristige Geldanlage geeignet sind, wissen viele Schüler nicht. Sie kaufen und verkaufen stündlich. Bei der Bux-App kann man sich in "Battles" mit anderen Nutzern messen, es gewinnt derjenige, der in einem bestimmten Zeitraum am meisten Kohle macht. Beim Planspiel Börse der Sparkassen gibt es so etwas nicht, hier ist auch die Schwelle zum tatsächlichen Aktienhandel größer.

Mit der echten Börse haben viele der Apps wenig zu tun. Bei Bux können Nutzer einen beliebigen Betrag auf steigende oder fallende Kurse setzen - in der Praxis nennt man das CFD-Handel. Dahinter steckt die englische Abkürzung für Differenzkontrakte, also Wetten auf eine bestimmte Kursentwicklung, ohne die Aktie selbst zu kaufen. Ein Aktionär kauft eine Aktie zu ihrem aktuellen Kurswert, zum Beispiel die Adidas-Aktie für 100 Euro. Ein CFD-Käufer dagegen kann auch nur 10 Euro auf die Adidas-Aktie setzen und je nach Hebel ein Vielfaches seines eingesetzten Geldes gewinnen - oder verlieren. Allerdings gibt es bei Bux keine Nachschusspflicht; es kann also niemand mehr Geld verlieren, als er eingesetzt hat.

Bux-Produkte werden nicht an der Börse gehandelt. Die App legt die Preise selbst fest. Laut AGBs ist Bux nicht verpflichtet, den besten Marktpreis zu führen. "Bux kann die Kurse also manipulieren", sagt Thomas Beutler von der Verbraucherzentrale Saarland. Außerdem werden bei Bux anfallende Erträge nicht automatisch versteuert. Nutzer müssen, sollten sie Gewinn machen, diese selbst versteuern. Tom Louis Zorn ist sich darüber im Klaren. Der Hamburger möchte sich aber eine andere, seriösere Möglichkeit suchen, um sein Geld an der Börse anzulegen. "Solche Apps sind eher zum Spielen", sagt er.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: