Geld - Macht - Hass:Krieg und später Frieden

Der Schriftsteller Leo Tolstoi verheimlicht sein Testament vor seiner Frau, den literarischen Nachlass vermacht er dem russischen Volk. Es entbrennt ein eifersüchtiger Kampf die Rechte an seinen Werken.

Oliver Bilger

Im Morgengrauen steigt Leo Tolstoi in die Kutsche und bricht auf zu seiner letzten Reise. Es ist kurz nach vier Uhr am 28. Oktober 1910, als er plötzlich beschließt, sein Landgut Jasnaja Poljana zu verlassen. Eilig kramt der alte Mann die nötigsten Habseligkeiten zusammen, Tochter Sascha und sein Leibarzt helfen beim Packen. Tolstoi schreibt einen letzten Brief an seine Frau Sofja. "Unerträglich" sei die Situation im Haus geworden, begründet er seine Flucht, die ein tragisches Ende finden soll.

Leo Tolstoi

Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi (1828-1910).

(Foto: DPA)

Begonnen hatte das Familiendrama schon viele Jahre vor dieser Oktobernacht. Die Protagonisten: der weltberühmte und verehrte Lew Nikolajewitsch Tolstoi und seine Frau Sofja Andrejewna Tolstaja. Daneben: Tochter Alexandra, Sascha genannt, die dem Vater treu ergeben ist, ebenso wie der intrigante Wladimir Grigorjewitsch Tschertkow, Begründer des Tolstojanismus, einer Art christlicher Anarchismus. Die Tolstojaner leiten ihre Lehre aus den Werken des Schriftstellers ab, Privateigentum lehnen sie ebenso ab wie Gewalt.

Zum bevorstehenden 100. Todestag Tolstois haben sich mehrere Autoren mit dem Schriftsteller beschäftigt, darunter Jay Parini, dessen Roman "Tolstois letztes Jahr" auf Basis historischer Recherchen als Vorlage für den Film "Ein russischer Sommer" diente. Oder die Slawistin Ursula Keller, die mit der Kunsthistorikerin Natalja Sharandak das komplizierte Eheleben im Buch "Sofja Tolstaja - Ein Leben an der Seite Tolstois" rekonstruiert. Weil viele Zeitgenossen damals Tagebuch führten, sind besonders die letzten Lebensjahre gut dokumentiert.

Graf Tolstoi pflegt bis zum Beginn der 1880er Jahre den Lebensstil eines russischen Adligen, lädt Aristokraten und Künstler zu Bällen und zur Jagd. Im Inneren strebt der Gutsbesitzer jedoch längst nach einem einfachen und geistigen Leben. Die Jahre, in denen er sich konsequent auf seine Romane konzentrierte, in denen er "Krieg und Frieden" oder "Anna Karenina" schrieb, sind vorüber. Stattdessen interessiert er sich jetzt für Religion, Philosophie und Sozialkritik. Nach dem Besuch in einem Moskauer Armenviertel quälen ihn die Widersprüche zu seiner eigenen Lebensweise. Überwältigt von Mitleid, beschließt er, seinem Vermögen zu entsagen.

Tolstoi bevollmächtigt seine Frau, alle Geldangelegenheiten zu übernehmen und auch die Drucklegung seiner Werke zu führen. Seinen Angehörigen überschreibt er Jasnaja Poljana und lebt fortan wie ein Gast auf dem Landgut. Er trägt Bauernkittel zum wilden Bart. Seine nach 1881 veröffentlichten Werke darf jeder unentgeltlich veröffentlichen. Tolstoi fühlt sich befreit von der Last des Besitzes, dennoch führen seine Entschlüsse in den folgenden Jahren immer wieder zu Streit mit Tolstaja; beide entfremden sich immer mehr. "Sie können sich nicht vorstellen, wie einsam ich bin", schreibt Tolstoi an Freunde, "alles was mir teuer ist, wird von meiner Frau verachtet."

In einer Verfügung verlangt er, dass die Urheberrechte seiner Werke nach dem Tod dem russischen Volk überlassen werden. Tolstaja hält diesen Wunsch "für dumm und sinnlos", sie fürchtet um das familiäre Wohl und will mit den freien Rechten nicht "reiche Verleger beschenken".

Der Zar hilft nicht

Tschertkow aber bedrängt Tolstoi, ein Testament zu verfassen. Zwischen Tolstaja und Tschertkow entbrennt ein eifersüchtiger Kampf um Tolstoi und die Rechte an seinen Werken. Bald darauf zerfällt Jasnaja Poljana in zwei verfeindete Lager, die sich gegenseitig bekämpfen. "Das Leben hier ist völlig vergiftet", notiert Tolstoi in seinem Tagebuch. Dazwischen bekennen sich die Eheleute dennoch immer wieder zu ihrer Zuneigung. "Ich verspreche dir, dass ich dich niemals verlassen werde, weil ich dich liebe", sagt Tolstoi zu seiner Frau.

Im September 1909 gibt er Tschertkow nach und nennt in seinem letzten Willen ihn als alleinigen Verwalter seines literarischen Nachlasses. Jedoch erklärt ein Notar das Testament für ungültig, weil er Eigentum nicht der Allgemeinheit vermachen darf. Ein neues Testament wird aufgesetzt, in dem Tolstoi seine Tochter Sascha zur formalen Alleinerbin erklärt. Tatsächlich aber verfügt damit Tschertkow über den Nachlass, die dem Vater völlig ergebene Sascha soll Tschertkow lediglich ermöglichen, mit dem Erbe ungehindert das zu tun, was er möchte. Erst später erfährt Tolstaja von der Entscheidung ihres Ehegatten. Sie rast vor Wut. Tolstoi versteht die Vorwürfe nicht, "als ob das Materielle das Wichtigste sei", wundert er sich.

Am Morgen des 28. Oktober überkommt Tolstoi das Gefühl der Ausweglosigkeit: seine Frau, Tschertkow, Journalisten, Bittsteller - sie alle bedrängen den 82-Jährigen. In Stille und Zurückgezogenheit wolle er seine letzten Tage verbringen, schreibt Tolstoi an seine Frau, bevor er das Landgut verlässt. Die Flucht endet am Bahnhof von Astapowo, wo er ein Zimmer des Stationsvorstehers bezieht. Tolstoi leidet an Fieber und Schüttelfrost, sein Arzt attestiert eine Lungenentzündung. Tschertkow und Tolstaja eilen nach Astapowo. Journalisten berichten direkt vom Bahnhof, die ganze Welt nimmt Anteil. Die Ehefrau darf erst in den letzten Stunden ans Sterbebett, Tschertkow und Sascha ließen sie nicht früher zu ihm. Am Morgen des 20. November erliegt Tolstoi der Krankheit.

Der Streit um den Nachlass ist damit nicht beendet, auch wenn Tolstaja sein Testament anerkennt. Sascha versucht, ihre Eigentumsrechte an Manuskripten durchzusetzen, die Tolstaja 25 Jahre zuvor ins Archiv gegeben hat. Auch um Jasnaja Poljana entbrennt ein Streit. Diesmal sind es die Söhne, die den Landsitz verkaufen wollen. Tolstaja aber will, dass ihr Heim zum Museum wird. Sie schreibt ein entsprechendes Gesuch, doch Zar Nikolai II. lehnt den Kauf ab. Stattdessen kauft Sascha ihrer Mutter das Gut ab und erfüllt Tolstois Wunsch, seine Ländereien den Bauern zu übergeben. Das Geld hat sie mit dem Verkauf der Rechte an einer Werkausgabe Tolstois und der Herausgabe unveröffentlichter Schriften verdient - gemeinsam mit Tschertkow.

Wenig später zieht Sascha im Ersten Weltkrieg als Krankenschwester an die Front. "Es schien, dass Vaters Vermächtnis, mit dem er mir alle Rechte an seinen Werken übergab, die Herausgabe der unveröffentlichten Werke, der Kauf Jasnaja Poljanas und die Aufteilung des Besitzes unter den Bauern mein Leben hätten ausfüllen können", schreibt sie. Doch tatsächlich suchte sie nach einer Bestimmung. Als sie im Dezember 1917 aus dem Krieg zurückkehrt, versöhnt sie sich nach vielen Jahren des Streits mit ihrer Mutter. Tolstaja unterstützt das Vorhaben, eine vollständige Werkausgabe zu veröffentlichen und übergibt Sascha und Sergej, dem ältesten Sohn, die Eigentumsrechte an den im Archiv lagernden Manuskripten.

Jasnaja Poljana wird 1921 tatsächlich ein Museum, das noch heute von einem Nachfahren geleitet wird. Die Nachfahren, heißt es, seien gar nicht unglücklich, dass ihr Vorfahre sie enterbte. Sonst hätten sich die folgenden Generationen womöglich noch lange um die Tantiemen gestritten. So aber hat die Familie einige Zeit nach Tolstois Tod ihren Frieden gefunden.

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