Süddeutsche Zeitung

Gewerkschaften:Löhne - Engagement hilft, Motzen nicht

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Viele Deutsche können sich über höhere Löhne und Gehälter freuen. Das wäre nicht der Fall, hätten sich alle rausgehalten. Ein Zeichen, wie wichtig Gewerkschaften auch heute sind.

Kommentar von Detlef Esslinger

Viele Menschen fühlen sich vom Gang der Welt geradezu überwältigt. Daraus ziehen sie einen ebenso verständlichen wie verhängnisvollen Schluss: dass es auf eigenes Engagement sowieso nicht ankomme. Die eigene Stimme, diese eine, bei einer Wahl? Ändert ja doch nichts. Ein Ehrenamt in einem Verein? Man weiß doch gar nicht, wo man da anfangen soll. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft? Wozu denn bitte das.

Kurz vor Weihnachten hat das Statistische Bundesamt seine neue Erhebung über die Entwicklung der Löhne veröffentlicht. Die Zahlen hören sich erfreulich an. Die Nominallöhne sind in diesem Jahr bisher um 2,6 Prozent gestiegen, und weil es kaum Inflation gibt, bedeutet das auch real noch einen Anstieg um 2,4 Prozent. Im Frühjahr werden die Daten fürs gesamte Jahr vorliegen; gut möglich, dass das Plus dann sogar noch ein bisschen höher sein wird.

Ja, diese Zahlen sind gut. Aber es gibt noch etwas bessere. Die Statistiker des Bundesamts betrachten immer die Löhne aller Branchen und Beschäftigten. Die Statistiker der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hingegen schauen sich vor allem an, wie die Tariflöhne gestiegen sind: nämlich um bis zu 3,5 Prozent, meistens zwischen 2,5 und drei Prozent. Anders gesagt, es macht auch in diesem Jahr wieder auf dem Konto einen Unterschied, ob die Arbeitsbedingungen ausgehandelt werden zwischen einem Arbeitgeberverband und einer Gewerkschaft - oder ob man in einer Firma arbeitet, deren Chef nichts von Tarifverhandlungen hält und nach Gutdünken entscheidet, wem er wie viel zahlt und wann er das Gehalt in welcher Höhe mal erhöht. Wo aber verhandeln Gewerkschaften mit Aussicht auf Erfolg? Nur in Branchen und Firmen, in denen sie so viele Mitglieder haben, dass die Arbeitgeber wissen: Entweder wir kommen ihnen jetzt entgegen. Oder demnächst wird wohl ein Streik unseren Betrieb lahmlegen.

Es handelt sich dabei um die eherne Regel der Lohnfindung, ganz gleich, wie man einzelne Ergebnisse bewertet. So haben jene 3,4 Prozent, welche die IG Metall im April für mehrere Millionen Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie herausschlug, viele Betriebe an die Grenze zur Überforderung manövriert. Einen vergleichbaren Ehrgeiz wird die Gewerkschaft im kommenden Jahr hoffentlich nicht entwickeln. Es gab für diese 3,4 Prozent einen einzigen Grund - und der war nicht die Auftragslage der Branche, sondern die glaubwürdige Drohung mit Streik. "Wir wollten unsere Industrie befriedet halten", sagte der Präsident der Metall-Arbeitgeber damals.

Engagement kann zum Erfolg führen - Motzerei sicher nicht

Dieser Abschluss ist ungeheuer lehrreich, weit über die Branche und das rein Ökonomische hinaus. Zu den betrüblichen Erkenntnissen des Jahres gehört ja, wozu es führt, wenn Institutionen an Bedeutung verlieren, die einer Gesellschaft den Rahmen geben; seien es Parteien, Kirchen, Medien, Vereine oder eben Gewerkschaften. Dann "fehlen die Gesprächsmöglichkeiten, die vielen kleinen Ventile für den täglichen Unmut", wie der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer sagt: "Deshalb auch diese explosionsartigen Ausbrüche wie bei Pegida." Ein Vergleich zwischen Nominallöhnen und Tariflöhnen ist da zwar nur eine Möglichkeit neben vielen anderen, den Unterschied zwischen Engagement und Motzerei zu erklären. Aber vielleicht nicht die banalste. Ein Plus von 3,4 Prozent gibt es eben nicht dort, wo alle sich raushalten.

Pathetisch gesprochen ist dies der Grund, warum die Zukunft von Gewerkschaften auch demjenigen nicht egal sein kann, der im Alltag nicht viel mit ihnen anzufangen weiß: Sie gehören zu den Institutionen, die eine Demokratie tragen können. Wenn derzeit die Chefs der Firma Amazon erklären, sie wollten zeigen, dass man auch ohne Einbeziehung von Gewerkschaften die Mitarbeiter fair behandeln könne, so zeigen sie damit im Grunde etwas anderes: dass sie Demokratie für eine Veranstaltung halten, die doch ganz gut im Bundestag oder an Wahlsonntagen aufgehoben ist. (Wenigstens sprechen sie es offen aus; im Unterschied zu jenen vielen unbekannten Firmeninhabern, die schon jede Diskussion über Mitbestimmung in ihrem Betrieb für eine Form der Enteignung halten.)

Erfolge, an denen man selber Anteil hat, wirken ganz anders als jene, die wie ein Naturereignis ins Leben treten. Der gesetzliche Mindestlohn gewährleistet seit einem Jahr ein akzeptables Einkommen überall dort, wo Gewerkschaften mangels Mitgliedern mehr oder weniger machtlos sind. Er ist ein Fortschritt - aber auf die negative Grundstimmung in der Gesellschaft hat er so gut wie keinen Einfluss gehabt. Das hat zwar auch niemand erwartet. Aufschlussreich ist es dennoch.

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SZ vom 23.12.2015
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