Gebäck:Hanseatische Kekstradition

Seit 1782 essen Hamburger Kemm'schen Kuchen. Über den Umgang mit einer Kultmarke.

Von Katharina Kutsche, Hamburg

Das Paket mit dem weitesten Weg schickt Frau Wohlrab aus der Speicherstadt bis kurz vor die Zugspitze. Ein Exil-Hamburger wohnt dort, der in der Vorweihnachtszeit nicht verzichten möchte auf ein Gebäck aus seiner Heimat: Kemm'sche Kuchen, eckige braune Kekse, die nach Zimt und Nelken schmecken, nach Sirup und nach einer Prise Salz.

Kemm'sche Kuchen gehören zu Hamburg wie der Michel und das seit 1782. Damals experimentierte der Bäckermeister Johann Georg Kemm mit Lebkuchen, um sie haltbarer zu machen. Er buk sie doppelt, variierte die Zutaten, bis aus dem Kuchen ein krosser Keks wurde. In der Hansestadt ist der Widerspruch unproblematisch, viele reden dort nur von "Kemm'schen", sagt Jens Wohlrab. "Außerhalb Hamburgs irritiert das die Leute. Das muss man ihnen anders verkaufen: als den Keks, der in Hamburg Kuchen heißt."

Wohlrab hat die Marke Kemm 2015 gemeinsam mit dem Kekshersteller Georg Parlasca gekauft. Parlasca produziert die Kekse in seinem Werk in Burgdorf bei Hannover, Wohlrab kümmert sich um den Vertrieb, seine Frau um den Versand und die Aufträge aus dem Einzelhandel. Und für alle Beteiligten sind die Kemm'schen Kuchen eine Herzensangelegenheit.

Die Kekse kennen viele Hamburger aus der Kindheit, sie erinnern an Omas Wohnstube oder die Nostalgie-Keksdose in Mutterns Fensterbank. Oder ans Hamburger Frühstück, einen Keks auf einem mit Butter bestrichenen Brötchen. Steht Wohlrab auf dem Michel-Adventsmarkt mit einem originalgetreuen Kemm-Bus, kommen Menschen zu ihm zu und erzählen, was sie mit der Marke verbinden. "Viele Kunden rufen uns an oder schreiben. Sie fragen, ob es uns gut geht, ob sie sich darauf verlassen können, dass es die Kemm'schen weiter gibt." Grund zu der Sorge gab es mehrmals in der Geschichte Kemms. Sie ist auch eine Geschichte über Erfolg und Misserfolg von Familienunternehmen und die Frage, wie sehr ein Kultprodukt von seinem Geburtsort abhängig ist.

Die erste Backstube, in der Kemm'sche Kuchen hergestellt wurden, steht 1782 in Altona. Doch Bäcker Kemm wächst die Produktion über den Kopf, zu erfolgreich ist die Rezeptur. Ein Nachfahre des Kekserfinders verkauft Rezept und Geschäft an Flentje, einen Zwiebackhersteller aus Hamburg-Lokstedt, der nun unter J. G. Kemm firmiert, das war 1903. Zur gleichen Zeit baut ein anderer Bäcker sein Geschäft in Hannovers Südstadt auf: Georg Parlasca. Er hat aus den Niederlanden ein Rezept für Spekulatius mitgebracht. Seine neue Spezialität ist beliebt, doch die Konkurrenz auch - Bahlsen etwa, heute einer der größten Kekshersteller Deutschlands und auch aus Hannover, hat bereits eine Fabrik. Die Bäckerei Parlasca gerät ins Hintertreffen.

Während Flentje längst industriell fertigt, verteilt sich Parlasca auch nach dem zweiten Weltkrieg auf drei nebeneinander stehende Stadthäuser: In den oberen Etagen wohnt die Familie, unten wird gebacken. 1967 zieht der Betrieb nach Burgdorf in die Region Hannover. Anna-Luise Parlasca, Tochter von Georg II. und Chefin in dritter Generation, stellt auf Industrieproduktion um. Im gleichen Jahr kommt ihr Sohn, Georg III. zur Welt, heute Geschäftsführer von Parlasca. Er kennt die Marke Kemm schon lange: "Mit 16 war ich das erste Mal in der Produktion in Lokstedt." Doch in Lokstedt läuft es nicht mehr, 1994 gibt Flentje auf. Gruyters aus Krefeld, Familienunternehmen seit 1863, übernimmt Marke und Produktion - mehr als 200 Jahre nach ihrer Erfindung werden die Kemm'schen erstmals nicht mehr in Hamburg gebacken.

"Wir haben erstmal viel Ausschuss produziert."

Er hätte die Marke schon damals gern gekauft, sagt Georg Parlasca, aber es wäre für sein Unternehmen nicht gut gewesen. Sein Geschäft: kleine Chargen mit industriellen Standards produzieren. Parlasca steht hinter Eigenmarken von Markenartiklern, backt Spezialprodukte wie Diabetiker-Kekse, Bio-, Baby- und vegane Kekse.

2013 kommt er zum Zuge: Gruyters hat Probleme mit der Produktion, bittet Parlasca um Hilfe. Derartige Kooperationen sind nicht unüblich: Prinzen Rolle etwa wird bei Griesson-De Beukelaer am Niederrhein hergestellt, die Marke gehört jedoch dem US-Unternehmen Mondelēz. Die 90 Burgdorfer Mitarbeiter müssen innerhalb kurzer Zeit lernen, braune Kekse zu backen - und das in der Hochsaison. "Wir haben erst mal viel Ausschuss produziert", sagt Parlasca. "Drei Schichten, sieben Tage die Woche. Erst nach acht Wochen kehrte Ruhe ein." Da haben die Hamburger bereits Angst bekommen: "Sorge um Kemm'sche Kuchen" titelt eine Zeitung.

Gruyters wird verkauft, die neuen Eigentümer können mit Kemm nichts anfangen. An einem Donnerstag im Jahr 2015 erfährt Parlasca, dass die Marke zum Verkauf steht. Keine 24 Stunden später sitzt er beim Notar und unterzeichnet den Vertrag. Nun heißt es aufholen, was in den vergangenen 20 Jahren untergegangen ist: Kemm ist immer noch da - und die Marke gehört zurück nach Hamburg. Wohlrab baut in der Hansestadt eine Niederlassung in der Speicherstadt auf, verpasst der Verpackung ein kräftigeres Blau, eine neue Werbefigur und bittet Kunden, ihre Geschichten zu Kemm zu erzählen. "So versuchen wir zu verstehen, wie und warum die Marke funktioniert", sagt Wohlrab, der eigentlich schon viele Anekdoten kennt. Etwa die der Dame, die Kemm'sche regelmäßig an Freunde verschenkt und stolz darauf ist, dass es die Kekse nur in Hamburg gibt. Da fragt sich der Vertriebler schon, ob es sinnvoll ist, die Marke auch südlich der Lüneburger Heide bekannt zu machen. Denn das ist der Plan für 2018, als Weihnachtsgebäck, trotz der Konkurrenz und trotz der Tatsache, dass das Gebäck in Hamburg nicht nur zu Weihnachten gehört, sondern zur kalten Jahreszeit, so Wohlrab. "Ab Ostern essen nur noch die harten Fans Kemm'sche, im September beginnt dann die neue Saison." Dann gibt es auch die Nostalgie-Kisten wieder in den Supermarktregalen rund um die Hansestadt, zumindest bis Ende Dezember.

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