Gauck-Rede beim SZ-Führungstreffen:"Maßlosigkeit hat in diese Krise geführt"

Lesezeit: 15 Min.

Der Bundespräsident wirbt für einen verantwortungsvollen Kapitalismus. Nur aus Angst dürfe man der Wirtschaft nicht die Freiheit nehmen - doch gerade im Finanzsektor sieht Joachim Gauck weiterhin Bedarf für Veränderungen. Dafür braucht es aus seiner Sicht aber nicht nur neue Regeln. Die Menschen müssten ihre Haltung überdenken.

Die Rede im Wortlaut.

Bundespräsident zur Verantwortung der Wirtschaft, Gaucks Wutrede (Video: Süddeutsche.de)

Wir dokumentieren hier die Rede von Bundespräsident Gauck beim Führungstreffen Wirtschaft der Süddeutschen Zeitung in Berlin. Es handelt sich um das vorab veröffentlichte Redemanuskript, von dem Gauck während seines Auftritts punktuell abgewichen ist (hier eine Zusammenfassung im Video).

Zuerst danke ich Ihnen, sehr geehrter Herr Kister, unserem Gastgeber! In der Ankündigung zu diesem Kongress stand das Wort "Krise", genauer: "Finanz- und Schuldenkrise", und gleich danach der freundliche Satz: "Er" - damit war ich gemeint - "kann Orientierung geben." Danke für diesen Vertrauensvorschuss! Das nennt man wohl einen Kredit für klare Worte.

Ich will gern versuchen ihn einzulösen im Rahmen der Möglichkeiten, aber auch der Grenzen, die man im Amt des Bundespräsidenten hat. Dieses Amt macht mich nicht zum Ökonomen, nicht zum Parlamentarier und schon gar nicht zum Propheten. Aber es schenkt mir Unabhängigkeit und Momente wie diese, in denen ich laut Programmbeschreibung zugleich als Deutscher, Europäer und Weltbürger sprechen darf.

"Das neue Europa in einer neuen Weltwirtschaft": Dieser Titel würde für mindestens zwei Vorträge reichen. Unserem Miteinander in Europa werde ich an anderer Stelle gern eine eigene Rede widmen. Die Weltwirtschaft - Stichwort "Schwellenländer" - ändert sich derzeit in einem Tempo, dass die Wortbeiträge auf Kongressen schon beim gemeinsamen Abendessen überholt sind. Umso mehr lohnt es sich, nach den hinter der Krise und hinter unserer Sehnsucht nach Erneuerung liegenden Motiven zu suchen.

Das soll heute mein Thema sein: Wie gelingt es uns überzeugend, Freiheit und Verantwortung zu verbinden? Dabei geht es mir nicht nur um die Frage, wie wir unser Tun moralisch beurteilen und moralisch verbessern wollen, sondern auch darum, wie wir Fakten schaffen für Wettbewerbsfähigkeit und Standortstärke. Es gibt eine ökonomische Ratio von Freiheit und Verantwortung!

Das Jahr 2008 steht für einen Schock, der bis heute nachwirkt. Die Finanzbranche gehört seither zu den meistgescholtenen Berufsgruppen. Allerdings: Mancher Bankkaufmann fühlt sich genauso getäuscht und betrogen wie der Sparer oder Investor, dessen Traum von einem 25-prozentigen Gewinn durch einen 100-prozentigen Verlust hinweggefegt wurde. Auch einige Führende erwiesen sich damals als Verführte oder gar Verführer: Mit ihrem Gewinnstreben und ihrer Gier - nicht nur im Finanzsektor. Mit ihren Wohlstandsversprechen und überbordenen Wachstumsfantasien - nicht nur in der Politik. Mit ihrer Gutgläubigkeit und ihren überzogenen Erwartungen - nicht nur auf Kundenseite.

Maßlosigkeit hat in diese Krise geführt. Nicht alles, was legal war, empfinden wir heute noch als legitim. Wir sehen: Überall dort, wo das vernünftige Maß nicht mehr Maßstab war, wo Freiräume überdehnt und missbraucht wurden - im Kreditwesen, bei Schattenbanken, im Immobiliensektor, aber auch bei öffentlichen Haushalten wie bei privater Verschuldung - überall dort hat die Krise nach uns und um sich gegriffen. Aus Verantwortungskrisen wurden Wirtschaftskrisen und Staatsschuldenkrisen, weil Ansprüche und Anstrengungen einander nicht mehr entsprachen.

Wer die aktuellen Beschäftigungszahlen und das Wachstum in Deutschland betrachtet, könnte meinen, die Schieflage sei überwunden. Zugleich spüren wir an jeder Ecke, dass unsere innere Verfasstheit nach wie vor in Unordnung ist. Es gibt ein Unbehagen, das Experten und Laien teilen, ohne es im Detail ausbuchstabieren zu können. Wir lesen alle paar Tage von der Nervosität der Märkte. Wir hören, dass die Nachbarin zum Autohändler sagt: "Ehe das Geld weg ist, mache ich meinem Enkel lieber eine Freude." Sie sagt das ruhig und pragmatisch, fern der Panik. Aber Sätze wie diese zeigen, dass sich - so gut es uns geht - im Denken etwas verändert hat. Der Glaube an ein "Weiter so" ist erschüttert.

Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten. Erstens: die Regeln, also den äußeren Rahmen des Handelns, korrigieren. Das ist gut und ist richtig. Rahmen und Regeln sind unverzichtbar. Darauf komme ich zurück. Genauso dringend ist in meinen Augen Option zwei: die Überprüfung unserer inneren Überzeugungen, unserer Motive und Haltungen. Dieser Prozess scheint ins Stocken geraten zu sein.

Bundespräsident Joachim Gauck mit dem französischen Premierminister Jean-Marc Ayrault auf dem Führungstreffen Wirtschaft der Süddeutschen Zeitung in Berlin. (Foto: dpa)

Erinnern wir uns. Die Diskussion nach 2008 gipfelte im Stichwort "Casino-Kapitalismus". Von Zockern und Hasardeuren war die Rede. Bankenkrise und Schuldenkrise avancierten zum Alltagsvokabular und neue Worte wie Bad Bank haben ihren Platz dort bis heute. Nicht nur Griechenland, eine ganze Reihe von Ländern in Europa, Amerika, Asien und auch Deutschland selbst leiden unter einer zuweilen erdrückenden Schuldenlast. Die Zusammenhänge sind komplex, Probleme über Jahre oder Jahrzehnte kumuliert. Schuldzuweisungen gibt es jede Menge. Und eher selten sind es die Führungskräfte aus Wirtschaft oder Politik, die bekennen: "Ich habe einen Fehler gemacht."

Ein neuer Umgang mit Fehlern stünde uns gut zu Gesicht. Zu Führung, Größe und Glaubwürdigkeit gehört es, Fehler zu erkennen und zu benennen. Ein Freund aus dem Ausland hat mir mal auf die Frage, was er als typisch deutsch empfinde, gesagt: "Deutsche betrachten einen Fehler als Scheitern, denken an Versagen. Bei uns dagegen ist ein Fehler eher eine wertvolle Erfahrung, die beim Neubeginn hilft." Vielleicht können wir von dieser Haltung lernen. Wenn wir Ursachen und Wege aus der Krise identifizieren wollen, dann lohnt es sich jedenfalls, unsere Denk-, Sprach- und Verhaltensmuster zu überprüfen.

In der Vergangenheit lag eine bequeme Lösung im abstrakten Verschieben von Verantwortlichkeiten, O-Ton: "Der Markt hat versagt." "Die Regulierung hat gefehlt." Oder: "Die Sanktion hat nicht gegriffen." Schuld war "das System", "die Politik" oder am besten gleich: "die Globalisierung" und "der Kapitalismus". Hören wir uns eigentlich noch zu? Wir sprechen über einen abstrakten Feind, der unüberwindbar klingt wie Militärmacht und Mauern des Kalten Krieges. Das Problem einer solchen Abstraktion ist: In dieser Welt gibt es niemanden, mit dem man verhandeln, Kompromisse finden, Kooperation entwickeln oder gar Frieden schließen könnte.

Und nach Sätzen ohne Ich-Pronomen fehlt meistens auch das Subjekt, das Selbstkritik üben und daran reifen würde. Die Spur der Verantwortung verliert sich dann im Klagen über die Komplexität der Dinge, im Modus der Unzuständigkeit oder Verzagtheit. Wir schimpfen eloquent auf anonyme Märkte, Massen oder Mechanismen - und wir sehen zu selten auf die Menschen, ihre Haltung, mit der sie Entscheidungen treffen und etwas verändern können.

Hinzu kommt eine andere Vorliebe: Wir sehen lieber auf die Gegenwart. Wenn es um Folgen für die Zukunft geht, blenden wir Verantwortung gern aus oder nehmen - mehr oder weniger bewusst - in Kauf, dass unsere Entscheidungskriterien von heute den Anforderungen von morgen nicht gerecht werden. Wer aus dem Alltagsgeschäft einen Moment zurücktritt und sich fragt, ob die größten globalen Probleme - ich sage Probleme, nicht Herausforderungen - etwas gemeinsam haben, wird feststellen: Es gibt einen gemeinsamen Nenner bei Überschuldung, Einkommensschere, Umweltzerstörung und vielem anderen.

Immer haben wir uns zu einem Zeitpunkt X - "damals" - entschieden, etwas zu tun, dessen Folgekosten für die Zukunft wir entweder nicht absehen wollten oder nicht absichern konnten. Wir haben den Preis unseres Handelns vom Augenblick der Entscheidung entkoppelt und damit zwei Dinge getrennt, die zusammengehören: die Freiheit, etwas zu tun, und die Verantwortung, dafür gerade zu stehen. Stattdessen haben wir manche Lasten verantwortungslos in die Lebenszeit unserer Enkel verschoben. Ich sage "wir", weil ich wenige kenne, die diesem Muster nicht irgendwann mal erlegen waren.

In einigen Ländern Europas stehen die Älteren, die jahrzehntelang mit besten Absichten für Wohlstand und Lebensqualität geschuftet haben, inzwischen ratlos vor einer Jugend, die kritisch nachfragt und sich als Opfer aufsummierter Versäumnisse empfindet: ohne Ausbildung, ohne Arbeit, ohne Perspektive auf ein selbstverwirklichtes Leben in Beruf und Gesellschaft. Das sind beunruhigende Entwicklungen. Ich kann hier keine Hilfe zaubern, aber für eine Haltung werben. Ich wünsche mir, dass wir unsere Vorstellungen von Verantwortung hinterfragen und - wo nötig - Verantwortung überzeugender wahrnehmen, Verantwortung verankern im Hier und Heute. Und dabei die Zukunft mit einkalkulieren!

Verantwortung darf kein Geschäft zu Lasten Dritter sein. Wer sie übernimmt, muss bereit sein, sie sofort und nachhaltig zu tragen. In Nachhaltigkeit findet sich der Wortstamm für Haltung. Nachhaltigkeit bedeutet, von Unternehmern, Politikern und Interessengruppen zu erwarten, dass sie ihre Entscheidungsprozesse verbinden mit der Frage, ob sie das ganze System überlasten und der Allgemeinheit schaden oder mit welcher Alternative sie Zukunftsrisiken klein halten können.

Indem ich die Verantwortung für die Zukunft so hervorhebe, übersehe ich nicht bereits gelingende Seiten der Gegenwart, im Gegenteil: Diese Seiten will ich stärken. Ich weiß, dass in der deutschen Wirtschaft - und nicht nur dort! - Verantwortung schon heute an vielen Stellen vorbildlich gelebt wird. Hier im Saal sitzen Macher und Zeugen dafür: fachlich exzellente, umsichtig und integer handelnde Persönlichkeiten. Ich bin dankbar, wenn Gäste aus dem Ausland mir in Bellevue erzählen, welchen guten Ruf deutsche Unternehmen und Produkte in der Welt haben, wie sehr "made in Germany" für Qualität, Verlässlichkeit und hohe Standards, wie das duale Ausbildungssystem, geschätzt wird. Oder wenn ich bei meinen Reisen erlebe, was unser Mittelstand in und für Deutschland leistet.

Das alles steht außer Frage und soll Quelle unserer mentalen Kraft sein. Genauso außer Frage steht, dass wir uns mit diesem Gedanken nicht auf eine Insel zurückziehen können, denn wir wollen doch ein neues Europa und eine neue Weltwirtschaft mit aufbauen. Gerade als erfolgreiche Wirtschaftsnation sind wir Teil einer großen Dynamik, in der Führen und Verführtwerden auch künftig näher beieinander liegen könnten, als uns lieb ist.

Ich sehe Führungskräfte in einer dreifachen Verantwortung: nach innen, nach außen und für ein kooperatives Miteinander in unserer Gesellschaft. Ich kann es auch so ausdrücken: Es geht um die Verantwortung für den Erfolg des Unternehmens am Markt. Es geht um die Verantwortung für die Akzeptanz des Unternehmens in der Gesellschaft. Und es geht um die Verantwortung für die Regeln, die gelten sollen im Zusammenleben. Diese Kategorien überlappen sich, so wie das Leben oft nicht trennscharf ist. Entscheidend ist für mich bei der Trias: Führung verpflichtet nicht nur in einer Hinsicht. Eine der wichtigsten Lehren aus der Krise war, dass wir unseren Blick beständig weiten müssen: von den originären unternehmerischen Aufgaben über Faktoren wie Glaubwürdigkeit und Vertrauen bis hin zu den großen ethischen und sozialen Themen.

Verantwortung heißt dann auch: Antworten geben nicht nur auf die Fragen der Anteilseigner und Aktionäre, sondern auch auf die der Mitarbeiter und Kunden, der Lieferanten und Partner, der Bürger, Kinder, Enkel. Diese Gesprächsbereitschaft haben einige teilweise, andere ganz verloren. Dabei orientiert sich diese Haltung an einem sehr alten Wissen, das wir längst haben und doch immer wieder neu gewinnen müssen. Martin Buber, der jüdische Philosoph, hat es einst so formuliert: "Echte Verantwortung gibt es nur, wo es wirkliches Antworten gibt. Antworten worauf? Auf das, was einem widerfährt, was man zu sehen, zu hören, zu spüren bekommt."

Der erste Schritt, mit dem solche Verantwortung wahrgenommen werden kann, ist das Bekenntnis zum verantwortlichen Subjekt, zum Menschen mit seinen Möglichkeiten. Das müssen wir nicht neu erfinden. Ich denke an ein altes Konzept, den ehrbaren Kaufmann - manche sagen, eine bedrohte Spezies. Schon im Venedig des 15. Jahrhunderts soll ja geklagt worden sein, es sei leichter einen spitzfindigen Juristen auszubilden, als einen ehrbaren Kaufmann. Aber es gibt ihn. Vielleicht darf ich an Robert Bosch erinnern, über den der erste Bundespräsident unseres Landes eine Biografie geschrieben hat. Aktueller denn je klingt sein Motto: "Eine anständige Art der Geschäftsführung ist auf die Dauer das Einträglichste."

Ich erinnere auch an die real existierenden Bankkaufleute, die vor 2008 nicht unter die Zocker gegangen sind. Einige von ihnen kenne ich persönlich. Die einen haben mir erzählt, sie hätten die neuen Finanzprodukte damals nicht gekauft, weil sie sie nicht verstanden haben. Die anderen sagten mir, sie hätten sie nicht gekauft, weil sie sie verstanden haben.

Die Aufgabe eines Unternehmers bleibt es, Gewinn zu machen, also gute schwarze Zahlen zu schreiben, Markttauglichkeit zu sichern, Investitionen zu wagen und Risiken einzugehen. Der Punkt ist: Risiken müssen beherrschbar bleiben und dürfen am Ende nicht uns beherrschen. Unternehmen und unterlassen gehören zusammen. Schwarze Zahlen sind kein Grund, rote Linien zu überschreiten!

Freies Unternehmertum braucht also Grenzen. Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet ich, dessen Lebensthema die Überwindung von Grenzen ist, einmal ein Loblied der Grenze anstimmen würde. Auch ich gehörte eine Zeit lang zu jenen, die beim Stichwort Regulierung vor allem glaubten: Weniger ist mehr. Meine Grundeinstellung hat sich nicht verändert. Ich liebe die Freiheit. Ich bin nicht bereit, sie der Angst zu opfern. Auch in Krisenzeiten dürfen wir nicht glauben, zukunftsfähig zu werden, indem wir der Wirtschaft die Freiheit nehmen, die sie stark macht.

Aber der Einschnitt 2008 hat einen Irrtum offenbart. Warum haben wir uns in den 90er-Jahren den "schlanken Staat" auf die Fahnen geschrieben? Weil wir hofften, mit weniger Bürokratie das Wachstum zu fördern. Echtes Wachstum, keine Scheinprosperität, keine Maßlosigkeit. Im Bankensektor und an den globalen Finanzmärkten war dies in mancher Hinsicht leider ein Fehler! Die wichtigste Botschaft der Beflaggung hätte dem handlungsfähigen und handlungswilligen Staat gelten müssen! Stattdessen haben wir Freiheit und Verantwortung auseinanderdriften lassen und müssen sie nun wieder enger zusammenführen, ja: führen!

Verantwortlich handeln heißt jetzt: aus Freiheit ein Freund von Grenzen zu sein! Wenn sich einige wenige die Freiheit nehmen, für nichts Verantwortung zu tragen, zerstören sie die Voraussetzungen der Freiheit - die Voraussetzungen der Freiheit, die gerade die Wirtschaft braucht. Grenzenlosigkeit verschafft diesen wenigen vielleicht unerhörte Höhenflüge. Aber für viele andere schafft Grenzenlosigkeit keinen Lebensraum, sondern eine Wüste. Soll Leben gelingen, gehören Freiheit und Verantwortung zusammen.

Streiks, Geisterstädte, Atom-Renaissance
:Folgen der Euro-Krise

In Spanien, Portugal und Griechenland wehren sich die Arbeitnehmer mit Generalstreiks gegen die rigiden Sparkurse ihrer Regierungen. Doch nicht nur Armut und Arbeitslosigkeit machen den Krisenländern zu schaffen: Italien verkauft seine Schlösser, in Irland werden Bauruinen zur tödlichen Falle. Und kritische spanische Journalisten werden ersetzt.

Diese Kopplung entsteht nicht von selbst, nicht automatisch. Auch der ehrbare Kaufmann allein kann sie nicht herstellen. Sie muss gesamtgesellschaftlich organisiert, muss idealerweise auch global gestaltet werden. Dazu gehört der Staat, dessen primäre Aufgabe es ist, Regeln zu setzen und durchzusetzen. Dazu gehört eine Gesellschaft, die Regulierung und effektive Aufsicht neu wertschätzen lernt. Und dazu gehört eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, was wir wollen und was nicht.

Zum Beispiel im Finanzsektor. Das Credo der Banken sollte buchstäblich die Glaubwürdigkeit ihres Handelns sein. Einige Banken rücken den Begriff der Glaubwürdigkeit zu Recht wieder neu in den Mittelpunkt, denken laut über eine geringere Rendite nach, über weniger Gehaltszulagen und Boni. Manche bekunden ihr Bedauern und reagieren auf die Vorwürfe, die inzwischen vor Gerichten behandelt werden: etwa die Manipulation des Libor-Zinssatzes. Geldhäuser kündigen einen Kulturwandel an.

Vieles ist angestoßen, aber der Wildwuchs im Finanzsektor ist bis heute nicht beseitigt. Grundsätzliche Veränderungen tun weiterhin not. Immerhin teilen Politik und Wirtschaft ein Grundverständnis: Der Finanzsektor muss dringend aufgeräumt werden! Ziel muss es sein, dass einzelne Banken nicht mehr ganze Staaten an den Rand des Abgrunds führen können. Über das "Wie?" dieser Aufräumarbeiten wird intensiv diskutiert, das "Wann" wird nach Empfinden vieler Beobachter zu langsam angegangen. Die Politik versucht zwar zu regulieren, aber leider gibt es über Maß und Prinzipien der Regulierung international noch wenig Einigkeit, und offenbar ist die Politik den Banken oft unterlegen.

Insider illustrieren immer wieder das "Hase-und-Igel-Phänomen" auf dem weiten Feld der Regulierung. Ich freue mich auf den Tag, an dem die Banken selbst ein Konzept formulieren, das nicht nur in Fachkreisen debattiert wird, sondern in einen breiten gesellschaftlichen Diskurs mündet. Das Bankwesen der neuen Weltwirtschaft - wenn Sie so wollen -, jedenfalls das Bankwesen, das Zukunft hat, darf nicht in guten Zeiten Boni kassieren und bei Schwierigkeiten wegen seiner Systemrelevanz die Steuerzahler fordern.

Bankenrettung kann im Einzelfall geboten sein, um Schaden nicht nur von der Bank, sondern von der Allgemeinheit abzuwenden. Aber vor allem müssen Banken wieder ihrer genuinen geschäftlichen Verantwortung gerecht werden und für die Konsequenzen ihres Handelns haften. Die derzeitige Gewissheit, im Notfall gerettet zu werden, verschiebt die Risikohaltung der Banken in einer Weise, die weder dem Markt entspricht noch den Wünschen der Steuerzahler.

Mit der Anstrengung, neue und überzeugende Regeln zu finden, ist natürlich das Thema Akzeptanz verbunden: für mich der Schlüsselbegriff der zweiten Verantwortungsform von Unternehmen, Verantwortung nach außen. Akzeptanzförderung bedeutet in meinen Augen mehr als gute PR oder Arbeit am Image. Akzeptanzförderung ist die nachhaltige Auseinandersetzung mit den eigenen Werten. Mit Haltung ist also nicht Edelmut gemeint. Haltung zeigt sich, wenn Führungskräfte in Unternehmen verstanden haben, dass Glaubwürdigkeit ein unverzichtbarer Teil ihres Unternehmenskapitals ist, so wie Glaubwürdigkeit untrennbar zum Bankengeschäft oder zum politischen Mandat von Politikern gehört.

Glaubwürdigkeit klingt nicht nur moralisch wertvoll, sondern ist auch ökonomisch klug, ein echter, für Unternehmen durchaus monetärer Gewinn! Wir kennen die Beispiele, bei denen mangelnde Glaubwürdigkeit, mangelnde Verankerung von Grundwerten ganze Konzernketten in den Ruin getrieben hat. Kunden quittieren moralische Verstöße manchmal schärfer als greifbare Produktmängel. Umgekehrt sind Solidität und Reputation oft sogar Kaufanreize. Die Marke "made in Germany" lebt davon. Akzeptanz ergibt sich wie ein Mosaik aus vielen Teilen, etwa den Arbeitsbedingungen für Mitarbeiter, der Erfüllung von Umweltschutzauflagen, der Auswahl von Zulieferern und Vertragspartnern - einfach aus allen Standards, die eine Führungspersönlichkeit begründen kann mit dem Satz: "Weil diese Werte es uns wert sind."

Gesunde Unternehmen brauchen im eigenen Interesse ein gesundes Umfeld. Das gilt sozial, ökologisch und auch weltweit. Wenn wir die Debatten über CO2-Quoten und Umweltzerstörung beobachten, bekommen wir eine Ahnung davon, wie vielschichtig Akzeptanzfragen in den nächsten Jahrzehnten bearbeitet werden müssen. Dass nicht nur Geld und Ressourcen, sondern auch unsere sozialen Werte auf dem globalen Marktplatz zur Disposition stehen, haben noch nicht alle verstanden.

Es geht um Menschenwürde, Menschenrechte, um Respekt und das Miteinander der Verschiedenen. Es geht um Demokratie, ihre Bürger und alle denkbaren Formen der Verantwortung. Es geht um die Fundamente unserer Freiheit! Diese Werte dürfen wir nirgendwo abgeben - an keinem Fabriktor der Welt.

Mit diesem "Wir" meine ich nicht nur Führungspersönlichkeiten aller Couleur, sondern ein echtes "Wir alle". Bangladesch, Budapest und Berlin gehören zu einer Weltwirtschaft. Den Spielraum verantwortlich handelnder Unternehmer prägt auch das Verantwortungsbewusstsein der Kunden. Mit dem Kassenbon kann man schlimme Zustände zementieren. Oder positiv ausgedrückt: Konsumenten haben eine enorme Marktmacht. Wo Handys zum Lifestyle werden, sind Produktionsbedingungen immer öfter nicht egal.

Man kann morgens um 5:00 Uhr für das neueste Gerät anstehen. Man kann aber auch einen ganzen Tag lang vor dem Laden gegen unmenschliche Arbeitsverträge protestieren. Wie lange greifen Europäer noch zur Jeans für zehn Euro, obwohl sie wissen, dass die Allerärmsten in Asien oder Lateinamerika einen hohen Preis dafür zahlen, mit ihrer Gesundheit oder ihrer Menschenwürde? Wir sollten die Bilder von brennenden Fabriken und geschundenen Körpern hinter verschlossenen Gittern nicht vergessen, sie gehen uns an. Wir kennen die Fälle von heute und die Prognosen für morgen, falls sich nicht öfter jemand findet, der sagt: Ich habe einen Fehler gemacht und ich mache es jetzt anders. Ich bin so frei!

Haltung darf sich nicht in Appellen erschöpfen. Haltung fordert Handeln. Und zwar aller: Nicht nur der Führungskräfte in Wirtschaft und Politik, sondern auch der Kunden und Bürger. Wenn Sie so wollen: Wirtschaft und Gesellschaft, das sind nicht immer nur die anderen. Wo dies verinnerlicht wird, erfahren wir: Verantwortlicher Kapitalismus ist möglich. Lassen Sie uns nicht in überholten Antagonismen verharren. Anstand im Wirtschaftsleben ist wichtig, zugleich ist Gewinnstreben nicht unanständig. Gefährlich wird erst die blanke Gier, das Mehrenwollen um jeden Preis.

Zivilisierung der Gier aber schafft aufgeklärten Kapitalismus. Zu oft werden jene, die Verantwortung anmahnen, wenn sie nötig ist, kurzerhand in die Ecke der Träumer gestellt - so als gäbe es nur die Wahl zwischen egoistischem Unternehmertum und weltfremdem Altruismus. Hier das Soziale, dort die Wirtschaft. Hier das warme Gute, dort der kalte Wettbewerb. Dieses Denken in falschen Alternativen müssen wir überwinden.

Wir können auf Wettbewerb und Wachstum nicht verzichten. Diese Anreize machen unsere Gesellschaft besonders lernfähig und innovativ. Entscheidend ist, dass wir die Regeln finden, die falsche Praktiken verhindern und fairen Wettbewerb ermöglichen. Dafür braucht es die Bereitschaft zur Kooperation, für mich die dritte Dimension der Verantwortung. Sie öffnet den Raum für Ausgleich und Kompromisse.

Lange bevor sich die Debatte über das neue Europa und die neue Weltwirtschaft am Horizont abzeichnete, haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes unseren Wertekanon beschrieben und darin neben Demokratie und Rechtsstaat ausdrücklich den Sozialstaat verankert. Ich erinnere in diesem Sinn an Artikel 14 des Grundgesetzes: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Es gibt viele verantwortungsvolle Führungspersönlichkeiten in unserem Land, die sich diesem Wohle der Allgemeinheit verpflichtet fühlen, Werte leben und Verantwortung wahrnehmen.

Meine erste Ordensverleihung in Bellevue galt zwei bekannten Botschaftern der Sozialpartnerschaft: dem Gewerkschafter Michael Sommer und dem Spitzenmanager Hubertus Erlen. Jeder hat auf seine Art in seinem Bereich jahrzehntelang um verantwortungsvolle Entscheidungen in Unternehmen gekämpft. Und jeder konnte aus dem wahren Leben erzählen. Herr Sommer erinnerte in seiner Dankesrede an die Sorgen im Jahr 2008 und an die Kompromissbereitschaft und die unternehmerische Mitverantwortung, die damals auf beiden Seiten - bei Arbeitgebern wie Arbeitnehmern - erkennbar wurde.

Die Sozialpartnerschaft hat sich in unserem Land bewährt, gerade in der vielleicht schwierigsten Situation seit 1949. Wir haben gute Erfahrungen mit demokratischer Mitbestimmung, Betriebsräten und Sozialplänen gemacht. Wir haben gelernt, dass Kurzarbeitergeld in kritischen Phasen die langfristigen Perspektiven eines Unternehmens und seiner Mitarbeiter retten kann. Wo der soziale Ausgleich hoch geschätzt wurde, da schlug die Krise weniger stark zu.

Ich finde in dieser Krise also auch eine Fülle hoffnungsvoller Möglichkeiten. Viele europäische Gesprächspartner bestätigen mir, dass sie in ihren Ländern sozialpolitischen Ausgleich als Freiraum für Dialog und Kompromisse erleben, als Voraussetzung für eine Wohlfahrtspolitik, die ermächtigt und nicht entmündigt oder lähmt. Europa legitimiert sich vor seinen Bürgern durch die Verwirklichung von wirtschaftlichen und sozialen Zielen. Ich habe den Eindruck: Immer mehr Europäer erkennen, dass soziale Stabilität und Kooperation auch ein ökonomischer Gewinn sind. Dort, wo wir diese erweiterte ökonomische Ratio und die Bereitschaft zu Reformen erleben, ist Europa auf einem ermutigenden Weg.

Sehr geehrter Herr Premierminister, ich verfolge mit großer Sympathie, dass in Frankreich intensive Diskussionen über Reformschritte in diese Richtung begonnen haben. Gerade weil das politisch kein bequemer Weg ist, schließe ich mich all denen an, die diese Anstrengungen würdigen und unterstützen. Ich freue mich sehr, Sie und die französische Delegation hier begrüßen zu dürfen! Herzlich willkommen!

Wie wir wissen, zählen Frankreich und Deutschland zu den Nationen, die immer wieder gebeten werden, sich mit besonderer Kraft für Europa einzusetzen. Lassen Sie uns das mit unseren europäischen Partnern gemeinsam und auf eine Weise tun, dass nicht einige vorausgeschickt werden, sondern dass alle überzeugt sind davon, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen.

Deutschland ist - gerade nach unseren krisenhaften Erlebnissen - bereit, sich mit seinen ökonomischen und politischen Erfahrungen der europäischen Gemeinschaft anzuvertrauen. Wir glauben, dass unsere Erfahrungen die Zukunftsaussichten Europas nicht schwächen, sondern stärken.

Mein Wunsch ist zugleich eine Bitte: Das letzte Wort in der Krise dürfen wir nicht den Angstmachern überlassen, weder Zuhause noch in der Welt. Freiheit soll niemals die Freiheit sein, unsere Werte aufzugeben. Meine Damen und Herren, gerade Sie - in diesem Saal - können in diesen Tagen deutlich machen: Wir alle sind frei, aber niemand ist frei von Verantwortung.

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