Süddeutsche Zeitung

Gastbeitrag zum ESM:"Der Rettungsfonds ist rechtswidrig"

Der ESM institutionalisiert den Verfassungsbruch, doch wird das Verfassungsgericht sich und den Wähler ernst nehmen?

Gunnar Beck

Dr. Gunnar Beck lehrt EU-Recht an der University of London, arbeitet dort als Barrister und ist ehemaliger Rechtsberater im EU-Ausschuss des House of Commons.

Am 12. September fällt die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Der ESM soll angeschlagenen Mitgliedern der Eurozone Kredite geben und Staatsanleihen direkt aufkaufen. Die Bundesregierung betont, dass der ESM eine Haftungsobergrenze von 700 Milliarden Euro vorsieht und den deutschen Anteil daran auf "nur" 190 Milliarden begrenzt. Offenbar lasen unsere Politiker den Vertrag nicht oder sie verstehen ihn nicht. Denn der ESM ist eindeutig rechtswidrig.

Entgegen der Zusicherung der Bundesregierung beschränkt Artikel 8 (5) des ESM-Vertrags das Fondskapital nicht auf den Nominalwert von 700 Milliarden Euro, sondern auf den Ausgabewert, der gemäß Artikel 8 (2) den Nennwert übersteigen darf. Gemäß Artikel 25 Absatz 2 haften solvente Mitgliedstaaten für Fehlbeträge, die sich dann ergeben, wenn andere ESM-Mitglieder ihrer Einzahlungspflicht nicht nachkommen. Deutschland haftet bereits jetzt stellvertretend, weil Griechenland und Portugal gar nichts einzahlen können.

Laut Artikel 21 kann der ESM unbeschränkt Kredite aufnehmen sowie Anleihen an den Kapitalmärkten begeben. Hierdurch werden faktisch die von der Kanzlerin verfemten "Eurobonds" eingeführt, weil alle Mitgliedsstaaten gemeinsam für die vom ESM begebenen Anleihen haften, und dies ohne Haftungsgrenze. Nicht ausgeschlossen ist durch Artikel 21, dass der ESM sich von der Europäischen Zentralbank weitere Mittel beschafft, die diese einfach drucken wird. Die Öffentlichkeit wird durch die deutsche Regierung irregeführt, so auch durch die Diskussion, ob der ESM eine Banklizenz erhalten solle. Gemäß Artikel 32 (9) braucht der ESM keine Lizenzierung als Kreditinstitut, auch nicht, um sich an den Finanzmärkten Geld zu leihen. Als die "Bad bank" der EU kann sich der ESM direkt und unbegrenzt Kredit bei der Notenbank beschaffen. Artikel 19 erlaubt darüber hinaus die Rettung insolventer Banken. Es bedarf also keiner Vertragsänderung zur gemeinsamen Bankenrettung und Schuldenunion. Eine Banklizenz hat der ESM kraft Vertrag also schon jetzt.

Das Verfassungsgericht hat erklärt, dass weitere Hilfen nicht ohne parlamentarische Zustimmung erteilt werden dürfen. Laut Artikel 4 (4) kann der ESM-Gouverneursrat jedoch auf Empfehlung der Kommission und EZB finanzielle Soforthilfen genehmigen. Stimmt das deutsche Ratsmitglied ohne parlamentarische Prüfung zu, genießt es gemäß Artikel 35 Immunität, während einmal gefasste ESM-Ratsbeschlüsse laut Artikel 32 und aus offensichtlich praktischen Gründen faktisch und rechtlich nicht einklagbar sind. ESM-Angehörige unterliegen zudem einer lebenslangen Schweigepflicht. Ähnlich wie der EZB Präsident müssen sie sich also nicht für Rechtsbrüche bei Amtsgeschäften verantworten, wenn sie nur schweigen.

Aufgrund der Möglichkeit kreditfinanzierter Staatsfinanzierung und der Nachschusspflicht Deutschlands im Fall der Zahlungsunfähigkeit anderer Staaten ohne Obergrenze könnte die Haftung Deutschlands für Schulden angeschlagener Eurostaaten durch den ESM-Vertrag im Extremfalle auf 700 Milliarden Euro und darüber hinaus ansteigen, zusammen mit bestehenden Garantien nach Zahlen des Ifo-Instituts zur Zeit auf bis zu anderthalb Billionen Euro. Das wäre bereits im günstigsten Fall ein Mehrfaches des jährlichen Bundeshaushaltes. Die Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages ist damit selbst bei Teilverlusten aufgehoben.

Das Verfassungsgericht hat wiederholt betont, dass die Währungsunion nur als Stabilitätsunion auch dem deutschen Grundgesetz entspricht. Werden die Stabilitätskriterien ausgehebelt oder ein Haftungsautomatismus begründet, liegt damit laut Gericht automatisch ein Verfassungsbruch vor. Die EU-Verträge verbieten Staatsfinanzierung über die Notenpresse, einschließlich der staatlichen Kreditaufnahme und Veräußerung von Regierungsanleihen an die EZB. Dem ESM wird nun gestattet, was der EZB im Mindesten gemäß Vertrag untersagt ist: Staatsanleihen direkt zu kaufen, Staatskredite zu gewähren, und insolvente Banken zu retten.

EZB-Präsident Draghi(avelli) hat bereits angekündigt, dass der Ankauf dreijähriger Staatsanleihen keine Staatsfinanzierung sei und bei Inkrafttreten des ESM fortan auch die EZB nicht mehr an ihr Mandat gebunden wäre. Vertragswidrig befinden sich bereits jetzt zwischen 40 und 150 Milliarden Euro griechischer Staatsanleihen in der EZB-Bilanz - aufgekauft oder als hinterlegte Garantien der Geschäftsbanken. Details über die Zusammensetzung und Kreditwürdigkeit weiterer Bilanzposten verweigert Draghiavelli. Der ESM-Vertrag vergemeinschaftet die Staatsschulden durch Direkthilfen, Garantien, ESM- Bonds und EZB-Kredite. Es gibt keine Obergrenze für gemeinschaftliche Schulden - ein Bruch des "No bail"- Prinzips des EU-Vertrages. Die EZB-Politik der subventionierten Staatsfinanzierung durch die Notenpresse und den angekündigten unbegrenzten Aufkauf spanischer und italienischer Staatsanleihen wird, so Bundesbankpräsident Weidmann, wie eine Droge wirken und schließlich Inflation beschleunigen. Durch Schuldenvergemeinschaftung um ein Vielfaches des Bundeshaushalts und den offenen Verstoß gegen die EU-rechtlich "abgesicherte" Stabilitätsunion bricht der ESM das Grundgesetz. Zudem begründet er einen Haftungsautomatismus, der durch Immunität geschützten ESM-Bankern Zugang zur deutschen Steuerkasse weist. Um das Budgetrecht des Bundestags und seiner Fähigkeit, durch Steuer- und Ausgabenpolitik die Lebensverhältnisse der Deutschen zu bestimmen, ist es damit endgültig geschehen.

Es wäre eine rechtsstaatliche Tragödie, wenn Karlsruhe bei offensichtlicher Rechtslage nicht den Mut aufbringt, sich selbst und den Wähler ernst zu nehmen. Denn unter den führenden Politikern in Deutschland ist niemand, der nicht bereit scheint, die eigene Bevölkerung in Knechtschaft zu geben : nicht, dies sei betont, wie vormals der Landgraf von Hessen für Gold und an den britischen König, sondern für das Totem vom Euro und auf Druck der internationalen Märkte und Meinung.

Indes in Deutschland noch mancher auf Karlsruhe hofft, sind sich die Finanzmärkte sicher: Man wisse, Bundesregierung und Verfassungsgericht hätten Kontakt auf höchster Ebene gehabt. Das Gericht, so vertrauliche Quellen in Berlin und führende Banker und ehemalige Regierungschefs im Ausland, werde den ESM nicht kippen oder den Bundespräsidenten bitten, seiner Ratifizierung eine Befindlichkeitserklärung beizufügen, etwa des Sinnes, Deutschland sehe im ESM keinen unbegrenzten Haftungsautomatismus oder Schuldenunion. Diese subjektive Bewusstseinserklärung wäre nichtssagend, denn der ESM-Vertrag sagt es anders. Wenn die Märkte recht haben, dann ist es ums Recht geschehen, und der Lehnsherr leider nicht nur von Hessen hätte seine Kronjuristen.

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SZ vom 07.09.2012/bbr
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