Süddeutsche Zeitung

Gastbeitrag:Transfer-Interessen

Bulgarien und Kroatien sind auf dem Weg in den Euro, während andere Länder, etwa Polen und Tschechien, das ablehnen. Was unterscheidet die Euro-Aspiranten von den Euro-Muffeln? Die Antwort ist ziemlich eindeutig - und fällt nicht gut aus für die EU.

Von Friedrich Heinemann

Bulgarien und Kroatien haben im Juli einen großen Schritt in Richtung Euro-Einführung gemacht. Die Währungen beider Länder sind in den Europäischen Wechselkursmechanismus mit seinen festen Bandbreiten zum Euro eingetreten. Dieser fungiert als eine Art Vorhof zur Gemeinschaftswährung. Ein zweijähriger Aufenthalt darin ist eine der Voraussetzungen für den Euro-Beitritt. Bulgarien und Kroatien könnten damit möglicherweise im Januar 2023 als zwanzigster und einundzwanzigster EU-Staat den Euro einführen.

In Brüssel hat der Beitritt der bulgarischen Währung Lew und der kroatischen Kuna zum Wechselkursmechanismus für wechselseitiges Schulterklopfen gesorgt. Der Beschluss zeige, so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass der Euro attraktiv bleibe. Wer näher hinschaut, tut sich mit dieser Selbstzufriedenheit schwer. Von einer breiten Anziehungskraft der Gemeinschaftswährung kann heute keine Rede mehr sein. Insbesondere in den ökonomisch besonders erfolgreichen EU-Staaten Nord- und Osteuropas fühlen sich die meisten Menschen ohne Euro viel wohler. Gemäß aktueller Umfragen sprechen sich in Polen, Dänemark, Schweden und Tschechien deutliche Mehrheiten gegen eine Euro-Einführung aus. In Schweden und Tschechien sind sogar zwei Drittel für das Festhalten an den nationalen Währungen.

Fragt man sich, was genau die beiden Euro-Aspiranten von den Euro-Muffeln unterscheidet, dann ist die Antwort offensichtlich: ihre Armut. Bulgarien und Kroatien liegen - gemessen an der Wirtschaftsleistung pro Kopf - auf den beiden letzten Plätzen auf der Rangliste aller 27 EU-Staaten. Dies gilt für 2019, war also noch vor der Corona-Rezession, die Kroatien besonders trifft und noch weiter zurückwirft. Umgekehrt hat sich ein Land wie Tschechien in den vergangenen Jahren auf Rang 14 der EU-Wohlstandsskala vorgearbeitet. Damit hat das Land zum Beispiel Portugal deutlich abgehängt. Mit anderen Worten: In den Euro drängen nur noch die ärmsten EU-Mitgliedstaaten; hingegen nähern sich die aufstrebenden osteuropäischen Staaten in ihrer Euro-Ablehnung immer mehr den wohlhabenden Schweden und Dänen an. Binnenmarkt ja - Euro nein, dieses Motto avanciert zum Konsens der besonders erfolgreichen ost- und nordeuropäischen Staaten.

Für Europas Gemeinschaftswährung ist diese Entwicklung bedauerlich. Gerade die wirtschaftlich robusten Länder wie Tschechien oder Polen wären ein Gewinn für den Währungsraum. Die von Nobelpreisträger Robert Mundell geprägte "Theorie der optimalen Währungsräume" hat die Kriterien für eine funktionsfähige Währungsunion aufgezeigt. Die Quintessenz dieser Theorie ist, dass eng integrierte Länder mit flexiblen Arbeitsmärkten, hoher Arbeitsmobilität und großer Anpassungsfähigkeit geeignete Kandidaten für eine Gemeinschaftswährung sind.

Der Euro verliert für gesunde Staaten an Reiz - ein Warnsignal

Es gibt wenig Zweifel daran, dass Tschechien und Polen den Bedingungen der Gemeinschaftswährung gewachsen wären. Beide Länder haben schon in zurückliegenden Krisen bewiesen, wie anpassungsfähig und resilient sie sind. Auch in der Corona-Rezession ist Polen wieder einmal der EU-Staat, dem derzeit die mildeste Rezession vorhergesagt wird. Hingegen bringen Kroatien und Bulgarien als periphere Volkswirtschaften viel schlechtere Voraussetzungen für eine Euro-Mitgliedschaft mit sich. Ginge es also nach der ökonomischen Theorie, dann sollte die Euro-Erweiterung genau umgekehrt verlaufen. Zuerst sollte eine zügige Aufnahme von Polen und Tschechien erfolgen. Dann erst, nach überzeugenden weiteren Reformen und einer längeren Übergangszeit, sollte eine Euro-Perspektive für Länder wie Bulgarien und Kroatien überhaupt erst ernsthaft geprüft werden.

Trotzdem kommt es jetzt umgekehrt. Wieder einmal wird die Auswahl neuer Euro-Staaten nicht nach den Kriterien optimaler Währungsräume erfolgen. Dennoch ist der Wunsch nach raschem Beitritt aus der Perspektive Bulgariens und Kroatiens letztlich rational. Denn die Attraktivität der Eurozone wird immer weniger durch die originären Vorteile einer gemeinsamen Währung bestimmt. Maßgeblich sind inzwischen die Umverteilungsinteressen geworden, weil sich der Euro-Ordnungsrahmen grundlegend gewandelt hat. Der ursprüngliche Haftungsausschluss des Maastrichter Vertrags ist heute durch umfassende fiskalische Absicherungsinstrumente hinfällig geworden. Noch in der Euro-Schuldenkrise galten strenge Auflagen als Vorbedingungen für europäische Kredite durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). In der Corona-Krise werden Kreditlinien jetzt praktisch ohne Vorbedingungen geöffnet. Vor zehn Jahren waren Kredite an überschuldete Euro-Staaten noch tabu. Eigentümer von Griechenland-Anleihen mussten erst einen Schuldenschnitt akzeptieren, bevor der ESM dem Land helfen konnte. Inzwischen räumt der ESM allen Euro-Staaten neue Kreditlinien ein, ohne die Schuldentragfähigkeit ernsthaft zu prüfen. In den Anfangsjahren der Gemeinschaftswährung wäre es undenkbar gewesen, dass die EZB eine Schlüsselrolle für die Staatsfinanzierung übernimmt, weil dies der Maastrichter Vertrag eigentlich verbietet. Spätestens mit der Rückendeckung des Europäischen Gerichtshofs für die Anleihekäufe und dem billionenschweren Corona-Wertpapierkaufprogramm PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme) ist das Verbot der monetären Staatsfinanzierung de facto Geschichte.

Ökonomisch schwache Länder können sich mit diesen neuen Spielregeln ausrechnen, in Zukunft von all diesen neuen Transfer- und Absicherungsinstrumenten zu profitieren. Umgekehrt wissen Länder, die bereits wohlhabend sind oder sich in der stabilen Aufwärtsentwicklung befinden, dass sie mit hohen Risiken konfrontiert sein werden. Damit ist der Euro-Beitritt zur Abwägung geworden zwischen den Vorteilen der Gemeinschaftswährung und den möglichen Nachteilen der Umverteilung. Es ist nachvollziehbar, dass diese Abwägung aus Sicht der ärmsten EU-Staaten Bulgarien und Kroatien positiv ausfällt. Ebenso klar ist aber auch, dass der Euro für Länder wie Tschechien und Polen damit seinen Reiz weitgehend eingebüßt hat.

Es mag gute Argumente für jede einzelne der genannten Veränderungen an der Maastrichter Verfassung geben. Europa sollte sich aber keine Illusionen über die Konsequenzen machen. Die Gemeinschaftswährung und zunehmend auch das ganze europäische Integrationsprojekt verlieren mit jedem Schritt in Richtung einer Transfer- und Haftungsgemeinschaft ihren Reiz für fiskalisch und wirtschaftlich gesunde Staaten. Der einsame Kampf der "Sparsamen Vier" auf dem EU-Sondergipfel war nur eines der Symptome dieser Entfremdung der Erfolgreichen. Das Desinteresse der erfolgreichen Osteuropäer am Euro ist ein weiteres sehr deutliches Warnzeichen.

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SZ vom 10.08.2020
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