Süddeutsche Zeitung

Gastbeitrag:Recht im Angebot

Die Staaten sehen sich zunehmend im internationalen Rechtswettbewerb. Der könnte die Gesetzgebung völlig verändern - womöglich anders als erhofft.

Von  Johanna Stark

Demnächst entscheidet sich, ob die Briten mit Jeremy Hunt oder Boris Johnson als Premierminister in die nächste Runde des verfahrenen Brexit-Pokers gehen. Bei allen Unterschieden sind sich beide einig darüber, dass Großbritannien im Falle eines No-Deal-Szenarios von der neu gewonnenen Freiheit im globalen Wettbewerb um mobile Ressourcen regen und strategischen Gebrauch machen sollte. Losgelöst von den Zwängen des EU-Rechts werde man durch kompetitive Unternehmenssteuersätze und weitere Regulierungslockerungen einen "ökonomischen Jumbo-Jet vor der Haustür der EU parken", so Hunt.

Diese drohende Rhetorik illustriert ein verbreitetes Phänomen: Anbieter von Rechtsnormen konkurrieren um die Gunst mobiler Nachfrager und haben im Zuge dessen begonnen, ihre Rechtsprodukte aktiv zu vermarkten. Das Gegenstück dazu sind strategische Rechtswahlentscheidungen der Nachfrager, die sich das für ihre Interessen am besten passende Recht heraussuchen.

Im Zuge von Globalisierung und Digitalisierung sind die Mobilitätskosten für Personen und Kapital deutlich gesunken. Individuen und Unternehmen können sich immer leichter aus einem Rechtssystem heraus- und in ein anderes hineinbewegen. Damit nehmen sie auch Einfluss darauf, welche Regeln für ihr Unternehmen, ihren Vertrag, ihre Ehe oder ihr Insolvenzverfahren gelten. Mitunter lässt sich das anwendbare Recht sogar vollständig von den territorialen Bezügen eines Rechtsgeschäfts abkoppeln. Standortwettbewerb wird so zu Rechtswettbewerb. Deutsche Firmengründer etwa können aus verschiedenen europäischen Rechtsformangeboten mit persönlicher Haftungsbeschränkung wählen, auch wenn sie allein in Deutschland ansässig und tätig sind.

Recht wird zunehmend zum Standortfaktor - mit teils problematischen Konsequenzen

Als sich zu Beginn des Jahrtausends die englische "Limited" auf Grund ihres Mindestkapitalerfordernisses von einem Pfund (gegenüber 25 000 Euro für eine deutsche GmbH) steigender Beliebtheit erfreute, sah der deutsche Gesetzgeber Handlungsbedarf: Seit 2008 ist auch hierzulande mit der Unternehmergesellschaft eine haftungsbeschränkte Rechtsform ohne nennenswertes anfängliches Mindestkapital im Angebot.

Durch solche Entwicklungen verfestigt sich eine Perspektive auf das Recht als staatliches Produkt, als einkaufbare - aber auch ablösbare - Dienstleistung, die mit der traditionellen Vorstellung einer staatlichen Rechtsordnung als unverbrüchlichem Rahmen für marktmäßiges Geschehen nicht mehr viel gemein hat. Wenn Gesetzgeber ihre Rechtsprodukte auf die Interessen mobiler Nachfrager zuschneiden, kann dies auf nationalstaatlicher Ebene dazu führen, dass die politische und rechtliche Realität mit unserem Verständnis politischer Werte und Strukturprinzipien in Konflikt gerät.

Probleme ergeben sich etwa im Hinblick auf das Demokratieprinzip. Die Grundprämissen repräsentativer Demokratie sind in den meisten westlichen Industriestaaten sogar verfassungsrechtlich verankert. Ein Spannungsverhältnis zwischen der Verpflichtung auf das Prinzip der Mehrheitsentscheidung und der Vorstellung vom Staat als international kompetitivem Akteur ist offensichtlich. Die normative Verankerung des Demokratieprinzips fußt auf der Idee, dass die Mitglieder eines Gemeinwesens gleichermaßen Achtung verdienen und dass dieser Respekt im Prinzip der Mehrheitsentscheidung, kombiniert mit der Prämisse "Ein Bürger, eine Stimme", Ausdruck und politische Umsetzung erfährt.

Im marktmäßigen Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage hingegen entsteht ein Ungleichgewicht: Die Verhandlungsmacht verschiebt sich zugunsten derjenigen, die selbst besonders mobil sind oder über international begehrte und mobile Ressourcen verfügen können, beispielsweise Direktinvestitionen. Diese Dynamik hat im Laufe der vergangen Jahrzehnte zu einer signifikanten Verschiebung in der Besteuerung von Produktionsfaktoren geführt: Kapital wird heute niedriger besteuert als weniger mobile Faktoren wie zum Beispiel Arbeit und Konsum.

Die Auswirkungen eines solchen Rechtswettbewerbs betreffen nicht nur die jeweiligen Rechtsgebiete, in denen sich kompetitive Dynamiken beobachten lassen. Letztlich geht es auch um die Art und Weise, wie sich Recht generell als Instrument staatlicher Ordnung zur Erreichung politischer Ziele einsetzen lässt. Als Gegenstand marktähnlicher Prozesse werden sich Rechtsregeln womöglich anders entwickeln als nach dem Ideal demokratischer Entscheidungsfindung oder den Vorgaben moralischer und politischer Werte.

Entwicklungen wie Globalisierung und Digitalisierung, die rechtliche Mobilität und damit auch Wettbewerbsdynamiken befeuern, lassen sich nicht wieder rückgängig machen. Dies aber führt unweigerlich zu Konflikten zwischen verschiedenen rechtspolitischen Zielen. Dieses Spannungsfeld sollte man sich bewusst machen und gemäß den (Verfassungs-)Regeln unseres politischen Systems um eine Lösung ringen, statt "durch die Hintertür", vermeintlich gezwungen, das Recht den Anforderungen eines Wettbewerbs anzupassen, dessen Voraussetzungen die Gesetzgeber zuvor selbst geschaffen haben.

Dabei ist die Gefahr eines weiteren Schadens für das Recht zu beachten. Es gibt Güter, die nicht verkauft werden sollten, wie etwa menschliche Organe oder akademische Titel. Eine Aufgabe des Rechts ist es, Märkte für solche mitunter heiß begehrten Waren zu verhindern und ihre Verteilung nach anderen Kriterien als Angebot und Nachfrage zu organisieren. Konsequent weitergedacht führt aber ein sich an Reichweite und Intensität ausbreitender Rechtswettbewerb dazu, dass das Recht selbst als Marktprodukt betrachtet werden muss. Ein Problem daran ist die funktionale Verschiebung, die mit seiner Einbindung in Markt- und Preismechanismus einhergeht.

Zum einen leidet die Funktion zwingenden staatlichen Rechts, Vorhersehbarkeit und Erwartungssicherheit in Bezug auf das Verhalten anderer zu schaffen. Zum anderen entsteht ein Spannungsverhältnis zu seiner Aufgabe, kollektive Wertentscheidungen abzubilden: Je stärker die Rolle des Rechts als Standortfaktor an Bedeutung gewinnt, desto mehr wird sich auch seine inhaltliche Gestaltung an dieser Funktion orientieren.

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Quelle:
SZ vom 15.07.2019
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