Süddeutsche Zeitung

Gastbeitrag:Rauf damit!

Die Bundesregierung sollte 2020 zum Jahr des Mindestlohns machen. Eine kräftige Erhöhung ist nötig, am besten in kleinen Schritten. Und eine wirksame Kontrolle, damit der Lohn nicht von Firmen umgangen werden kann.

Von Achim Truger

Die Debatte um den Mindestlohn kommt wieder in Fahrt. Erst 2015 wurde er in Deutschland als allgemeiner flächendeckender Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde eingeführt und seither in kleinen Schritten auf 9,35 Euro erhöht. Nun wird innerhalb eines breiten politischen Spektrums, das von Sozialverbänden und Gewerkschaften über Rot-Rot-Grün bis hin zu Teilen der CDU reicht, eine Erhöhung auf 12 Euro gefordert.

Die Forderung nach einer kräftigen Erhöhung ist sozialpolitisch gut nachvollziehbar. In der Begründung des Mindestlohngesetzes findet sich als Ziel die Absicherung eines armutsfesten, existenzsichernden Lohnniveaus, das zumindest einem vollzeitbeschäftigten Single-Haushalt ein Auskommen ohne zusätzliche Aufstockungsleistungen ermöglicht. Aufgrund hoher Lebenshaltungskosten in vielen deutschen Großstädten ist der gegenwärtige Mindestlohn davon deutlich entfernt. Soll das zum Mindestlohn erzielbare Einkommen nach 45 Beitragsjahren eine gesetzliche Rente oberhalb der Grundsicherung ermöglichen, müsste der Mindestlohn sogar spürbar über 12 Euro liegen.

Weitere Orientierung bietet die international übliche Definition der Armutsgefährdungsschwelle. Ein Haushalt gilt demnach als armutsgefährdet, wenn sein Einkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) liegt. Dementsprechend müsste der Mindestlohn bei mindestens 60 Prozent des Medianlohns angesetzt werden. Genau diese Zielmarke findet sich in der Forderung nach einem europäischen Mindestlohn, die unter anderem vom Europäischen Gewerkschaftsbund sowie den europäischen Sozialdemokraten und Grünen erhoben wird und zur Einleitung eines offiziellen Konsultationsverfahrens mit den Sozialpartnern durch die neue EU-Kommission geführt hat. Der deutsche Mindestlohn lag nach Berechnungen der OECD 2018 unter 46 Prozent des Medianlohns und damit nicht nur weit entfernt von 60 Prozent, sondern auch im EU-Vergleich abgeschlagen auf den hinteren Rängen. Aktuell würden 60 Prozent des Medianlohns übrigens etwa 12 Euro entsprechen.

Aber so gerechtfertigt sie sozialpolitisch erscheinen mag, würde eine kräftige Erhöhung des Mindestlohnes nicht das große Risiko eines Anstiegs der Arbeitslosigkeit bergen? Wie schon vor Einführung des Mindestlohnes werden entsprechende Warnungen von vielen Wirtschaftsvertretern und Ökonomen geäußert. Allerdings klingen die Warnungen zu Recht deutlich vorsichtiger als im Vorfeld der Mindestlohneinführung, als zum Teil extrem hohe Beschäftigungsverluste von bis zu knapp einer Million Jobs prophezeit wurden.

Seit 2015 wird klar, dass die beschäftigungspolitischen Befürchtungen maßlos übertrieben waren. Die vorliegenden Studien finden lediglich einen leichten Rückgang bei der ausschließlich geringfügigen Beschäftigung, während sich für die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung letztlich kein erwähnenswerter Effekt feststellen lässt. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter der Mindestlohnkommission gehen in einem Überblicksaufsatz hart mit den Fehlprognosen der Mindestlohngegner ins Gericht. Sie weisen darauf hin, dass sich die Wirkungen des Mindestlohnes in der Realität deutlich von derjenigen in simplen Lehrbuchmodellen unterscheiden. So zeigt sich, dass die Unternehmen - neben der durchaus auch vorkommenden Umgehung des Mindestlohnes - in der Realität auch die Produktivität oder die Preise erhöhen oder eine Verminderung der Gewinne hinnehmen können, anstatt einfach Beschäftigung abzubauen.

Der international renommierte Arbeitsmarktökonom Arindrajit Dube von der University of Massachusetts Amherst kommt denn auch in einem Gutachten für die britische Mindestlohnkommission nach Sichtung internationaler Erfahrungen zu dem Ergebnis, dass bis zu einer Höhe von 60 Prozent des Medianlohnes keine nennenswerten negativen Beschäftigungswirkungen zu erwarten sind. Damit wäre also just eine Höhe des Mindestlohnes, die zur Vermeidung von Armutsgefährdung führt, auch ungefährlich für die Beschäftigung. Daher spricht alles dafür, für den Mindestlohn mittelfristig eine Höhe von 60 Prozent anzupeilen. Natürlich existiert in der Ökonomie kein sicheres Wissen, und Erfahrungen aus anderen Ländern lassen sich nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen. Aus diesem Grund empfiehlt sich eine vorsichtige schrittweise Anhebung auf das 60-Prozent-Niveau. Um Planungssicherheit zu gewährleisten, könnte man dabei jährliche Anpassungsschritte in Höhe von drei Prozentpunkten vorsehen, was gegenwärtig gut 60 Cent pro Jahr entspräche. Nach vier Jahren hätte man sich dann der 60-Prozent-Schwelle weitgehend angenähert und könnte die restliche Lücke im fünften Jahr schließen.

Wie müsste man die Mindestlohnerhöhung konkret umsetzen? Grundsätzlich wäre es denkbar, dass sich die laut Gesetz zuständige Mindestlohnkommission einfach auf die Anhebung auf 60 Prozent einigt. Dies ist aufgrund ihrer Konstruktion jedoch unwahrscheinlich. In der Kommission sitzen je drei Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter, die sich bei der Mindestlohnanhebung rückwirkend am Wachstum der Tariflöhne orientieren sollen. Abweichungen müssen begründet und mehrheitlich beschlossen werden.

Aufgrund der Stimmenparität von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern kann die Arbeitgeberseite höhere Anpassungen jedoch jederzeit wirksam verhindern. Bei normaler Regelanpassung würde es jedoch voraussichtlich bis nach 2030 dauern, bis der Mindestlohn bei 12 Euro läge; eine Annäherung an das Ziel von 60 Prozent des Medianlohnes würde unterbleiben. Daher ist die Politik gefragt: Sie muss der Mindestlohnkommission - falls nötig gesetzlich - die stufenweise Anhebung auf das 60-Prozent-Niveau vorgeben. Wobei die Abweichungsrechte wie bisher erhalten bleiben könnten, um auf auftretende Probleme reagieren oder auch die Anhebung im Konsens forcieren zu können.

Die Mindestlohnanhebung muss durch wirksame Kontrollen und Maßnahmen gegen Missbrauch und Umgehung begleitet werden. Sie kann für sich genommen nicht alle Probleme von Lohnungerechtigkeit lösen, hierfür wäre insbesondere eine stärkere Tarifbindung noch wichtiger. Sie kann aber einen wichtigen Beitrag durch armutsfeste, existenzsichernde Löhne leisten. Die Bundesregierung sollte dies nach Vorlage des Berichts der Mindestlohnkommission Mitte des Jahres angehen. Wenn sie im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft auch auf europäischer Ebene aktiv würde, könnte 2020 das Jahr des deutschen und europäischen Mindestlohns werden.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4813655
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 24.02.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.