Süddeutsche Zeitung

Gastbeitrag:Europa kann mehr

Nationale Politik verunglimpft Brüssel oft als Bürokratiemonster. Aber für Verbraucher ist die Europäische Union eine Erfolgsgeschichte. Sie macht das Leben der Menschen in unzähligen Bereichen einfacher, sicherer und kostengünstiger.

Von Klaus Müller

In vielen Erzählungen trägt Brüssel die Schuld an irrsinnigen Verboten. Allseits bekannte Klassiker: die Vorschrift zur Gurkenkrümmung, das Verbot der Glühbirne, die Staubsaugerverordnung. Auch oft erzählt werden Mythen, Brüssel verbiete Kuchenbasare in Kitas, zwinge Zoos, Hirsche an Raubtiere zu verfüttern, oder schreibe Windeln für Almkühe vor. Eines eint die von der EU-Kommission dokumentierten Geschichten: Sie zeichnen das Bild eines Bürokratiemonsters, das Verbrauchern das Leben schwer macht.

In Wirklichkeit ist die Geschichte der EU für die Verbraucherinnen und Verbraucher eine lange Erfolgsgeschichte. Die EU macht das Leben der Menschen in unzähligen Bereichen einfacher, sicherer und kostengünstiger. Sie schafft Regeln, die für alle gelten. Das ist im Zuge der Digitalisierung, des grenzüberschreitenden Handels und Lebens gewinnbringender denn je - für Verbraucher und auch die Wirtschaft.

Die EU löst Probleme, die für Einzelstaaten nicht lösbar sind, und verschafft ihren Bürgern oft mehr Geld. Etwa durch die Abschaffung der Roaming-Gebühren, seit ein paar Tagen sowohl, wenn man von zu Hause ins Ausland telefoniert als auch umgekehrt. Wer, wenn nicht eine europäische Institution hätte das regeln können? Von der Abschaffung der Roaming-Gebühren profitieren nicht nur private Verbraucher, sondern auch jedes im Ausland agierende Unternehmen. Ebenso wie von den gedeckelten Gebühren für den Einsatz von Kreditkarten oder die durch die Gemeinschaftswährung überflüssigen Umtauschgebühren. Wegfallende Zölle im Binnenmarkt sind gut für Verbraucher und für Unternehmen.

Die EU hat den Verbrauchern neue Rechte beschert. Mit der Preisangabenrichtlinie müssen Preise im Supermarkt seit 1998 einschließlich der Umsatzsteuer und umgerechnet auf die jeweils übliche Handelsmenge - Liter oder Kilogramm - angegeben werden. In den USA ist das anders. Dort müssen die Verbraucher den Endpreis im Kopf ausrechnen, um zu vergleichen.

Die EU stärkt die Verbraucherrechte auf vielen Ebenen. 2004 räumte sie europäischen Fluggästen umfangreiche Rechte im Fall von Verspätungen, Stornierungen, Nichtbeförderung und beschädigtem Gepäck ein. Im November 2009 sprach der Europäische Gerichtshof Fluggästen bei verspäteter Ankunft Anspruch auf Entschädigungszahlungen zu und nicht nur auf Sachleistungen wie Verpflegung. Seit 2007 gelten auch im Bahnverkehr ähnliche Rechte.

Die Verbraucher sind das Fundament der EU. Sie kaufen ein, reisen, investieren. Sie sind es, die den Binnenmarkt zum Blühen bringen. Viele beschränken sich dabei nicht auf ein europäisches Land, weil sie auf der einen Seite der Grenze leben und auf der anderen arbeiten oder reisen. Die EU verabschiedet Gesetze, die über Grenzen hinweg gelten und für mehr Geld, mehr Rechte und mehr Sicherheit in unserem täglichen Leben sorgen. Sei es im Supermarkt, im Zug, im Internet und darüber hinaus.

Die Menschen und die Wirtschaft haben viel zu gewinnen. Und zu verlieren

Viele dieser Neuerungen stießen zunächst nicht auf Begeisterung und waren heiß diskutiert, so die "Glühlampen-Verordnung". Als sie zum 1. September 2009 in Kraft trat, waren die Widerstände immens, die Hamsterkäufe messbar. Im ersten Halbjahr 2009 wurden zehn Millionen Glühlampen mehr verkauft als im Vorjahreszeitraum. Heute ist die Diskussion beendet, die Auswahl an Licht-Alternativen groß, das Sparziel erreicht. Das Umweltbundesamt nannte das Glühlampen-Aus schon 2016 eine "Erfolgsgeschichte".

Einen ähnlichen Wirbel erzeugte erst 2018 die Datenschutzgrundverordnung, kurz DSGVO. Wieder wurde das Szenario der überbordenden Bürokratie bemüht. Wieder wurden falsche Geschichten erzählt, wie die, dass in Wien wegen der DSGVO Namen von Klingelschildern verschwinden müssten. Ein Jahr später setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass die hohen Datenschutzstandards nicht nur Verbraucher schützen, sondern auch ein Wettbewerbsvorteil für innovative Unternehmen sein können. Zahlreiche Länder haben die Vorschriften bereits kopiert. Selbst in den USA und Asien wird diskutiert, sich an der DSGVO zu orientieren.

Die Diskussion über die Europäische Union wird heute so emotional geführt wie lange nicht mehr. Wenig besprochen wird dabei, was die EU für die Menschen getan hat, tut und tun sollte. Europa kann weiterhin eine Erfolgsgeschichte sein. Die nächsten Kapitel versprechen, sehr spannend zu werden. Zu jedem Verbraucheralltag gehört heutzutage die Digitalisierung. Herausforderungen wie Algorithmenkontrolle, Regeln für künstliche Intelligenz und digitale Produkthaftung können in Europa am sinnvollsten gemeinsam gelöst werden. Das gilt genauso für Klimaschutz, Plastikvermeidung oder Kennzeichnung gesunder Lebensmittel. Ein Blick in die Europawahlprogramme zeigt jedoch: Die Erkenntnis, dass viele Alltagsprobleme der Verbraucher nicht innerhalb der Staatsgrenzen bleiben, sondern eine europäische Lösung brauchen, ist bei den meisten Parteien, die die Europapolitik mitgestalten wollen, noch nicht angekommen.

Viel zu selten stellen sich auch nationale Regierung entschlossen hinter Brüssel und verteidigen gemeinsam getroffene, aber bei Bürgern zunächst unliebsame Entscheidungen. Zu oft schieben sie Brüssel den Schwarzen Peter zu, wenn es unbequem ist, und heimsen selbst den Gewinn ein, wenn der europäische Trumpf sticht. Europa selbst schafft es nicht, seine Erfolge zu vermitteln. In einer Bürgerbefragung des Verbraucherzentrale Bundesverbandes war etwa die Hälfte der Interviewten in Deutschland der Meinung, die Abschaffung der Roaming-Gebühren oder das verbesserte Widerrufsrecht sei nicht ausreichend als Erfolg der EU kommuniziert worden.

Vielleicht ist dieses falsche Schwarze-Peter-Spiel auch ein Grund, warum die EU derzeit mit Problemen kämpft, die vor wenigen Jahren noch völlig undenkbar schienen - Austritte von Mitgliedsländern oder Zulauf gewinnende Populisten, deren Mitglieder erklären, die Europäische Union von innen heraus zerstören zu wollen. In dieser Woche wird das neue Europäische Parlament gewählt. Verbraucher, aber auch die Wirtschaft sollten dabei sehr genau überlegen, welches Spiel sie spielen wollen und wer in Wirklichkeit die besseren Karten hat. Sie haben viel zu gewinnen und zu verlieren. Die EU und unsere europäischen Politiker können uns bei der Wahl helfen, indem sie mit guten Regeln und fairen Wettbewerbsbedingungen unseren Verbraucheralltag günstiger, einfacherer und sicherer machen.

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Quelle:
SZ vom 20.05.2019
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