Energieversorgung:"Gas ist von nun an ein knappes Gut"

Wegen gedrosselter Lieferungen aus Russland und drastisch steigender Preise ruft Wirtschaftsminister Habeck die zweite Stufe des Notfallplans Gas aus. Direkte Markteingriffe bis hin zur Rationierung sind erst in der dritten Stufe möglich.

Von Markus Balser, Benedikt Müller-Arnold, Düsseldorf, und Henrike Roßbach, Berlin

Wegen gedrosselter Gaslieferungen aus Russland und drastisch steigender Preise ruft die Bundesregierung die Alarmstufe auf dem Gasmarkt aus. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) verkündete am Donnerstagvormittag in Berlin die Aktivierung der zweiten der drei Stufen auf der Krisenskala des Gasmarktes. Seit Ende März gilt bereits die Frühwarnstufe. Direkte Markteingriffe bis hin zur Rationierung der Gaslieferungen sind aber erst in der dritten, der Notfallstufe, möglich.

Habeck warnte am Donnerstag vor einem "Schock" auf dem Gasmarkt. "Auch wenn aktuell noch Gasmengen am Markt beschafft werden können und noch eingespeichert wird: Die Lage ist ernst und der Winter wird kommen", warnte Habeck. "Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Drosselung der Gaslieferungen ist ein ökonomischer Angriff Putins auf uns." Es sei dessen Strategie, "Unsicherheit zu schüren, die Preise zu treiben und uns als Gesellschaft zu spalten. Dagegen wehren wir uns."

"Gas ist von nun an ein knappes Gut", sagt Habeck

Habeck machte klar, dass das Land auf eine schwierige Lage zusteuert. "Es wird ein steiniger Weg, den wir jetzt als Land gehen müssen. Auch wenn man es noch nicht so spürt: Wir sind in einer Gaskrise. Gas ist von nun an ein knappes Gut. Die Preise sind jetzt schon hoch, und wir müssen uns auf weitere Anstiege gefasst machen." Das werde sich auf die industrielle Produktion auswirken und für viele Verbraucherinnen und Verbraucher eine große Last werden.

Ausgelöst hat den Schritt die Verringerung der Gaslieferungen aus Russland durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1. Seit der Drosselung in der vergangenen Woche ist der Gasmarkt noch angespannter als zuvor. Eine weitere Belastung ist absehbar: Eine anstehende Wartung der Pipeline ist vom 11. Juli an geplant, etwa zehn Tage könnte sie dauern. In den vergangenen Jahren wurde in diesen Zeiten auf die Gasspeicher zurückgegriffen, um den geringeren Gasimport auszugleichen. Zwar sind die Gasspeicher zu fast 60 Prozent besser gefüllt als im Vorjahr. Doch sollten die russischen Gaslieferungen über die Nord-Stream-1-Leitung weiterhin auf dem niedrigen Niveau von 40 Prozent verharren, ist der nötige Speicherstand von 90 Prozent bis Dezember kaum mehr ohne zusätzliche Maßnahmen erreichbar.

Die Ausrufung der Alarmstufe gilt nun als Voraussetzung für die Pläne der Bundesregierung, dass vermehrt Kohlekraftwerke wieder ans Netz geholt werden sollen, um in den kommenden Monaten Erdgas bei der Stromproduktion einzusparen. Das entsprechende Gesetz soll den Bundesrat am 8. Juli passieren. Damit können auch die Versorger Vorkehrungen für das Hochfahren der Kraftwerke treffen.

Für Kunden kann die Alarmstufe Konsequenzen beim Gaspreis haben, die die Regierung aber vorerst verhindern will. Denn Versorger können ihre höheren Einkaufspreise so direkt an ihre Kunden weiterreichen. Dafür war im Energiesicherungsgesetz im Mai eine neue Preisanpassungsklausel geschaffen worden. Das dürften sie auch dann, wenn in einem bestehenden Gasvertrag noch deutlich niedrigere Tarife auf viele Monate hin vereinbart sind. Denn auch Gaslieferanten geraten in der Lage zusehends unter Druck, weil sie fehlende Liefermengen zu sehr hohen Preisen auf anderen Wegen beschaffen müssen.

Vorerst aber will die Bundesnetzagentur die entsprechende Preisanpassungsklausel noch nicht aktivieren. Verbraucherzentralen hoffen, dass Gasanbieter von ihrem Anpassungsrecht nur mit Augenmaß Gebrauch machen werden. "Mein Eindruck ist: Versorger sind nicht scharf darauf, sofort die Preise für eine breite Masse an Privatkunden zu erhöhen", sagt Udo Sieverding, Energieexperte der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. "Das würde ein großes Chaos verursachen, weil viele Privatkunden davon ausgehen, dass sie noch monatelang in Sicherheit sind." Sieverding erwartet vielmehr, dass Gasversorger zuerst an Firmenkunden herantreten würden. "Da gibt es feste Ansprechpartner, das sind Profis."

Dennoch mahnt Sieverding: "Wenn sich die Krisenlage verschärft und festsetzt, wird früher oder später eine Welle an Preiserhöhungen kommen können." Mancherorts sehen Verbraucherzentralen bereits Gaspreiserhöhungen um 100 Prozent, während die Welle in anderen Städten noch gar nicht angekommen sei. "Wir gehen davon aus, dass sich Gaspreise verdreifachen könnten im Vergleich zum Vorkrisenniveau", sagt Sieverding.

Kostete eine Kilowattstunde Erdgas vor der Energiepreiskrise noch etwa sechs oder sieben Cent, sei man mittlerweile durchschnittlich bei etwa 13 Cent, rechnet der Verbraucherschützer vor. In Tarifen für Neukunden sehe man bereits 20 bis 25 Cent je Kilowattstunde Gas, mit Ausschlägen nach oben. Dabei werden Mieterhaushalte mit Gasheizung die Auswirkungen erst auf den nächsten Heizkostenabrechnungen Schwarz auf Weiß sehen können, also mit deutlicher Verzögerung.

Erst wenn die Regierung noch einen Schritt weiter geht und die höchste Stufe, die Notfallstufe, auf dem Gasmarkt ausruft, könnten Behörden auch die Gaszuteilung rationieren und bestimmen, wer überhaupt noch Gas bekommt. Private Haushalte sind besonders geschützt und sollen möglichst lange versorgt werden. Die Industrie müsste sich dann auf Kürzungen einstellen.

Am Dienstagnachmittag, beim Tag der Industrie des BDI, hatte Habeck die Verschärfung gewissermaßen schon vorbereitet - jedenfalls rhetorisch. "Wir reden darüber, dass der Angriff mit Energie als Waffe gegen uns geführt wird", sagte er dort zur Lage der Dinge. Zum Plan der Regierung gehöre unter anderem, Gaskraftwerke, "die im Strombereich unterwegs sind" durch die Hereinnahme von Kohlekraftwerken zu ersetzen. Es gebe aber "natürlich gar keine Garantie", dass dieser Plan aufgehe, warnte Habeck.

Wenn er aufgehe, seien die Speicher im Winter voll, die geplanten Kapazitäten über Flüssiggasterminals angeschlossen und im Frühjahr noch mal mehr LNG-Kapazitäten vorhanden. Noch aber seien die Speicher erst mit knapp 60 Prozent gefüllt, "und wenn wir nur mit halbvollen Speichern in den Winter gehen und der Gashahn abgedreht wird, dann reden wir über eine schwere Wirtschaftskrise, die Deutschland trifft" - und über politische Maßnahmen, die schwer einschnitten und bei denen man "nichts mehr richtig machen kann". Es gehe um ein womöglich monatelanges Szenario, so Habeck, und damit nicht mehr um einen gesunkenen Shareholder Value, sondern darum, "dass die Unternehmen einfach weg sind".

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