Führungskrise bei Siemens:Ein Unternehmen, das niemand versteht

Siemens Hauptversammlung

Siemens-Aktionäre bei der Hauptversammlung 2012: Der Münchner Konzern war lange das vielleicht typischste aller deutschen Unternehmen.

(Foto: dpa)

Gut, perfektionistisch - und behäbig, das war lange das Image von Siemens. Der Rauswurf von Vorstandschef Löscher belegt die interne Zerrissenheit des unübersichtlichen Konzerns. Dem Vorstand gelang es nicht, die Balance zwischen Renditezielen und Ingenieurskunst zu halten.

Von Karl-Heinz Büschemann

Es sind nicht immer die großen Pannen, die einen Konzernmanager zu Fall bringen. Manchmal haben auch kleinere Dinge schreckliche Wirkung für Firmenchefs. Die verspätete Lieferung von ICE-Zügen gehören dazu oder der überteuerte Zukauf einer Firma. Aber eine Kernfrage muss der Noch-Konzernchef Peter Löscher erklären. Wie konnte es sein, dass der Siemens-Konzern unter seiner Regie 20 Prozent seines Börsenwertes verlor - und das, obwohl der Mann, der seit sechs Jahren an der Unternehmensspitze steht, auf kaum etwas so sehr achtete wie auf die Zufriedenheit der Analysten.

Ein Grund ist, dass Löscher den Siemens-Konzern nie verstanden hat. Der ist nicht nur ein komplexes Firmensystem, das aus vier Bereichen besteht, von denen jeder größer ist als mancher Dax-Konzern. Dieses Unternehmen mit 370.000 Mitarbeitern und 78 Milliarden Euro Umsatz ist in 190 Ländern vertreten. Zudem ist Siemens ein Teil der deutschen Wirtschaftskultur, der viel stärker als die CSU dafür sorgte, dass aus München ein führender deutscher High-Tech-Standort wurde. Komplizierter geht es nicht.

Was aber ist das Problem in einem Konzern, der noch im vorletzten Geschäftsjahr den höchsten Gewinn seiner 165-jährigen Geschichte erreichte? Was läuft nicht richtig, wenn ein Unternehmenschef zurücktreten muss, weil er im kommenden Jahr wahrscheinlich den angepeilten Gewinn in Höhe von zwölf Prozent des Umsatzes nicht erreichen wird? Der Chef wurde ja auch nicht gefeuert, weil er im vergangenen Jahr nur eine Rendite von etwas über neun Prozent schaffte, als er einen Gewinn von 4,5 Milliarden Euro machte.

Der bevorstehende Rausschmiss von Unternehmenschef Peter Löscher vermittelt den Eindruck, Siemens sei ein Sanierungsfall. Die Ironie der Geschichte will es, dass Siemens am Freitag, als die Krise in München eskalierte, mit 70 Milliarden Euro wieder das wertvollste deutsche Unternehmen war.

Zu gut, zu perfektionistisch - und zu behäbig

Offenbar gelten in diesem Unternehmen andere Maßstäbe, und das liegt daran, dass dieser Riese seit Jahrzehnten an seiner Modernisierung arbeitet, aber gleichzeitig niemand zu wissen scheint, was sein richtiger Weg in die Zukunft wäre. Der Königsweg für Siemens dürfte irgendwo zwischen Himmel und Erde liegen. Die richtige Strategie muss auf die Kälte der Börsen Rücksicht nehmen und den Mitarbeitern die nötige soziale Wärme vermitteln. Sie verbindet langfristiges Denken und die Ungeduld der Börsianer.

Der richtige Weg muss daher irgendwo zwischen Peter Löscher und dem Firmengründer Werner von Siemens liegen. Der alte Siemens hatte einst den Satz gesagt: "Für augenblicklichen Gewinn verkaufe ich die Zukunft nicht". Das habe ihn beeindruckt, sagte der Noch-Chef vor wenigen Tagen.

Der Münchner Konzern war lange das vielleicht typischste aller deutschen Unternehmen. Siemens stand für Elektrotechnik und Elektronik, für Kraftwerke und für Glühbirnen, die Münchner lieferten Produkte vom Telefon über Kühlschränke bis zum Röntgengerät und galten stets als "overengineered". Zu gut, zu perfektionistisch. Deshalb war der Münchner Konzern auch lange als viel zu behäbig verschrien.

Zu diesem Image des schlafenden Riesen trug bei, dass Siemens über Jahrzehnte der Haus- und Hoflieferant der früheren Bundespost war. Die stellte den Bürgern die Telefone in ihre Häuser, die Siemens-Ingenieure für die richtigen hielten, auch wenn es im Ausland längst modernere Geräte gab. Konkurrenz gab es kaum. So wurde der Konzern reich.

Lange Zeit schwamm das Unternehmen im Geld und machte den Eindruck, nicht zu wissen, was er mit seinem dicken Finanzpolster anfangen sollte. Siemens wurde in Wirtschaftskreisen als "Bank mit angeschlossener Elektroabteilung" verlacht. Und stets wurde das Industrieunternehmen mit dem US-Konzern General Electric verglichen, der unter dem legendären Jack Welch zur Profitmaschine wurde.

Siemens-Chef muss ein Künstler sein

Welch galt in seiner Chefzeit von 1981 bis 2001 als der führende Vertreter eines beinharten Shareholder-Value-Prinzips. Der gefürchtete Manager vervierfachte den Umsatz des Konzerns, versiebenfachte den Gewinn und reduzierte die Belegschaft zugleich um ein Viertel. Welchs Führungsprinzipien wurden in Deutschland verachtet. Heimlich haben die Siemensianer immer wieder rübergeschaut zum verhassten US-Konkurrenten.

Der Chef von Siemens muss ein Künstler sein, er muss Unmögliches schaffen: Technologie vorantreiben, Milliarden in die Entwicklung der Produkte von morgen stecken und dafür Jahre einplanen. Er muss gleichzeitig im nächsten Quartel ein gutes Ergebnis liefern. Ein Widerspruch, der nur schwer auflösbar ist. Dazu ist eine starke Persönlichkeit vonnöten, die den Analysten erklären kann, dass die Entwicklung eines Gaskraftwerks oder eines Hochgeschwindigkeitszuges Jahre dauern kann.

Ein früherer Siemens-Mann beschreibt das so: "Man muss den Analysten auch mal erklären, was für Sachen das Unternehmen macht, und darf sich nicht auf Margendiskussionen einlassen". Wer die Börsen nicht davon überzeugen kann, dass langfristig gute Produkte auf den Markt kommen werden, muss damit rechnen, an den Renditezielen gemessen zu werden.

Analysten bleiben entspannt

Siemens ist in der jüngeren Zeit im Verhältnis zur Konkurrenz etwas zurückgefallen, berichten Fachleute. Aber die wissen auch, dass sich solche Rückstände aufholen lassen. Die Medizintechnik des Siemens-Konzerns ist weltweit erfolgreicher als je zuvor. Zuletzt sind hier Umsatz und Gewinn gestiegen. Dieses Geschäft übertrifft schon heute die Renditeziele, die der Konzern in einem Jahr erreichen wollte.

Der Energiebereich, der Kraftwerke liefert, stehe trotz der jüngsten Pleiten und dem Rückzug aus der Solarenergie "auf Augenhöhe mit GE", sagt ein Siemens-Kenner. Am schwächsten schneidet der Sektor Städte und Infrastruktur ab, der hat zuletzt eine Marge von weniger als zwei Prozent geschafft. Der ist erst wenige Jahre alt und muss seinen Platz noch finden.

Analysten, die gerne als Mitschuldige der Führungskrise bei Siemens gesehen werden, sehen die Vorgänge in München entspannt. Die Commerzbank empfiehlt die Siemens-Aktien zum Kauf. Gleiches gilt für die Citigroup und Morgan Stanley. Und wie immer bei Siemens gibt es auch andere Meinungen. Die britische Investmentbank HSBC meint, die Papiere des Münchner Konzerns würden wieder mit einem Risikoaufschlag gehandelt und empfiehlt erst mal abzuwarten: "Halten". Aber auch das ist nicht schlecht, eigentlich.

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