Süddeutsche Zeitung

Altersvorsorge:Run auf die Frührente

  • Mehr als 100 000 Rentenversicherte haben sich 2018 an die Deutsche Rentenversicherung gewandt, weil sie möglichst ohne Abzüge vorzeitig in den Ruhestand gehen wollen.
  • Das 2016 in Kraft getretene Flexirentengesetz erleichtert es Versicherten, bereits mit 63 in Rente zu gehen und die eigentlich fälligen Kürzungen zu vermeiden - wenn sie vorher entsprechende Ausgleichszahlungen an die Rentenkasse leisten.

Von Hendrik Munsberg

Architekten können Großes erschaffen - aber auch Einfallsloses hinterlassen wie diesen grauen Bürokomplex mit getönter Fensterfront. Liegt es am Grün ringsum, dass das Ding so verloren wirkt, mitten im Münchner Stadtteil Neuperlach? 670 Kilometer nordwestlich, in einem Gewerbegebiet im westfälischen Münster, steht ein noch größerer Verwaltungskoloss; je näher man kommt, desto öder die Fassade. In Mannheim ragt unweit des Neckars ein missratenes Ungetüm auf: ein Bunker aus Beton und Glas.

So sehen sie häufig aus - die Dienststellen der Deutschen Rentenversicherung (DRV Bund), die über die gesamte Republik verstreut sind. Wohl niemand käme auf die Idee, sich freiwillig dorthin zu begeben.

Aber welch ein Irrtum! In Wahrheit ergießt sich eine Art Pilgerstrom hin zu den Stätten, an denen das kostbare Rentenvermögen von 23,1 Millionen Bundesbürgern verwaltet wird. Allein im vergangenen Jahr, erklärt ein Sprecher der Deutschen Rentenversicherung, "hatten wir 3 808 739 Besucher in den Auskunfts- und Beratungsstellen". Rechnerisch sind das mehr als 15 Prozent der Versicherten, die vor allem diese eine Frage umtreibt: Wie steht es um meine Alterssicherung?

Neuerdings drängt es immer mehr Menschen zu den Rentenberatern, weil sie einen komfortablen Weg in den vorgezogenen Ruhestand suchen. Dafür gibt es einen triftigen Grund: das "Flexirentengesetz", das im Juli 2016 in Kraft trat, lange Zeit kaum bemerkt von der Öffentlichkeit. Seither kann jeder, der in der gesetzlichen Rentenkasse versichert ist, vom 50. Lebensjahr an Ausgleichszahlungen leisten - wenn er früher in Rente gehen will, die dann fälligen Abzüge beim Altersruhegeld aber vermeiden möchte. Das wird eine immer attraktivere Option, erst recht für diejenigen, die 1964 oder später geboren sind. Für sie gilt die "Regelaltersgrenze" von vollen 67 Jahren. Mit dem Flexirentengesetz sind solche Grenzen aber verrückbar.

Von einem entsprechend "relativ hohen Anfrageaufkommen" berichtet der Sprecher der Rentenversicherung. Die Rechnung ist simpel: Jeder Monat, den man eher in Rente geht, bewirkt ein Minus von 0,3 Prozent. Frühestens möglich ist das mit 63, sofern man 35 Beitragsjahre in der Rentenkasse vorweisen kann; dazu zählen auch Kindererziehungszeiten, Bundeswehr oder Zivildienst. Wer vier Jahre eher geht, muss einen Abschlag von 14,4 Prozent (0,3 mal 12 Monate mal vier Jahre) hinnehmen. Oder vorher Ausgleichszahlungen leisten.

"Mehr zahlen, eher aufhören, gleiche Rente" - die Formel trifft offenkundig den Geschmack vieler Bundesbürger. Allein 2017 ließen sich 116 643 Versicherte beraten, wie sie - trotz vorgezogenen Ruhestands - mit Sonder- und Ausgleichszahlungen ihre Rentenabschläge dämpfen oder vermeiden können. Und die starke Nachfrage hält an: Von Januar bis Oktober 2018 meldeten sich 100 489 Versicherte mit dem gleichen Begehren bei der DRV Bund, aufs Jahr hochgerechnet bedeutet dies sogar zunehmenden Andrang. Überraschen kann das nicht. Wie es in den Köpfen der Generation 50 plus aussieht, offenbarte kürzlich eine Studie der Bergischen Universität Wuppertal. Demnach möchten "weniger als zehn Prozent aller erwerbstätigen Befragten mindestens bis zu ihrer jeweils gültigen Regelaltersgrenze arbeiten". Eine überwältigende Mehrheit wünscht sich: bloß früher aufhören.

Das ist auch möglich, man muss sich die Ausgleichszahlungen aber leisten können. Zahlenbeispiele der DRV Bund zeigen, was es kostet: Wer eine Rente von 1200 Euro erwartet und drei Jahre eher in Ruhestand gehen will, hat einen Abschlag von monatlich 130 Euro zu gewärtigen, womit sich eine verminderte Rente von 1070 Euro ergibt (siehe Tabelle). Wer dieses Minus vermeiden möchte, kann vorher 32 821 Euro einzahlen. Geht man nur ein Jahr früher in Rente, beträgt der monatliche Abschlag lediglich 43,20 Euro, der Ausgleich kostet dann 10 123 Euro. Wichtig dabei: Die Summe kann auch in Raten oder nur teilweise geleistet werden, beginnen darf man damit aber frühestens im Alter von 50.

Termine beim DRV-Berater bekommt man aber nicht so leicht

Wahr ist: Die Ausgleichssummen sind nicht gerade gering, sie dürften sich aber für viele lohnen - in Zeiten von Minizinsen auf Bankguthaben und angesichts eines heute vergleichsweise geringen Rentenbeitragssatzes von 18,6 Prozent. Rechnerisch dauert es etwa 20 bis 21 Jahre, bis man den Ausgleichsbetrag durch höhere Rentenzahlungen herausbekommt. Allerdings, so erklärt Hermann-Josef Tenhagen, Chefredakteur von Finanztip, wer eingezahlt hat, profitiert auch von allen künftigen Rentenerhöhungen. Diese sind in den Werten der DRV Bund bisher natürlich nicht berücksichtigt.

Noch attraktiver wird das Investment, wenn man es als "Vorsorgeaufwand" steuerlich geltend machen kann. Also: Außer den Rentenfachmann unbedingt einen Steuerexperten konsultieren. Die aktuellen Zahlen der DRV Bund belegen das wachsende Interesse. Demnach zahlten 2017 genau 11 621 Versicherte in die Rentenkasse ein, weil sie eher aufhören wollen, 2012 waren es nur 933. Und: 2017 überwiesen 2000 Versicherte bereits im Alter zwischen 50 und 54 Jahren, was erst durch das Flexirentengesetz möglich wurde, vorher ging das frühestens mit 55.

Aber was passiert, wenn man dann doch bis zum gesetzlichen Rentenalter arbeiten möchte? Das Geld ist nicht verloren, die Rente wird entsprechend aufgestockt.

Termine beim DRV-Berater bekommt man aber nicht so leicht. Am bequemsten geht das per Internet: Auf der Homepage "Beratung in meiner Nähe" anklicken, danach "Termine online vereinbaren" und "Beratungstermin buchen". Doch die Experten sind derzeit oft bis Ende Juni ausgebucht, weiter reicht die Vorschau nicht.

Es gibt aber einen simplen Trick, früher zum Zuge zu kommen. Einfach morgens zwischen sieben und acht Uhr auf die Website schauen: Dann werden oft kurzfristig Termine frei - weil Erkrankte absagen.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es: "Nur wer 45 Jahre einzahlt, bekommt die Rente mit 63 abschlagsfrei." Das ist nicht korrekt, wir haben den Satz entfernt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4375430
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 25.03.2019/jana
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.