Süddeutsche Zeitung

Finanzpolitik:Friedrich Merz in der Falle

Der CDU-Wirtschaftsexperte erntet zu Recht Spott: Er wollte seine Kompetenz in der ökonomischen Theorie demonstrieren, bewirkte aber das Gegenteil - zur Unzeit.

Kommentar von Nikolaus Piper

Ein guter Chef muss nicht alles wissen. Aber der Chef oder die Chefin sollten wissen, was sie nicht wissen, und sich entsprechend beraten lassen. Im Idealfall bringen sie es dann zum big picture guy, wie amerikanische Managementtheoretiker sagen. Sie können das ganze Bild im Blick haben, weil sie für die Details die besten Experten um sich sammeln. So ist es in Unternehmen, so ist es auch in der Politik. Man kann ein sehr guter Wirtschafts- oder Finanzminister sein, ohne alle Feinheiten der ökonomischen Theorie zu kennen. Zum Beispiel was eine "Liquiditätsfalle" ist. Blöd nur, wenn man trotzdem darüber redet.

Insofern hat sich Friedrich Merz, Direktkandidat der CDU, Jurist und Wirtschaftsexperte der Union, den Spott für seinen jüngsten Tweet redlich verdient. "Der Bundeshaushalt steigt auf ein Volumen von 550 Milliarden Euro, 240 Milliarden Euro davon sind neue Schulden", twitterte Merz. "Deutschland und die EU sind mit ihrer Finanzpolitik da angekommen, wo sie niemals hätten hinkommen dürfen: in der Liquiditätsfalle." Zum Hintergrund: Der Begriff stammt von dem britischen Ökonomen John Hicks, der damit die Lehre von John Maynard Keynes formalisierte. In seinem Hauptwerk, der "Allgemeinen Theorie" von 1936, suchte Keynes nach einer Erklärung dafür, dass die Notenbanken, anders als erwartet, den Zusammenbruch der Wirtschaft nicht durch Zinssenkungen verhindern konnten. Die Erklärung fand er im Verhalten der Spekulanten. Wenn die Zinsen sehr niedrig sind, horten sie ihr Geld und investieren es nicht, weil sie auf höhere Zinsen spekulieren. Die Notenbank ist machtlos, die Regierung muss als Investor der letzten Instanz einspringen.

Die Frage ist: Haben wir heute eine Liquiditätsfalle? So wie Keynes und Hicks sich das vorgestellt hatten, sicher nicht. Allerdings liegen die Zinsen in den USA und in Europa schon lange nahe null oder nur leicht darüber, weshalb die Europäische Zentralbank und die Federal Reserve praktisch nichts mehr zusätzlich tun können, um der Wirtschaft zu helfen. Das könnte man als eine Form der Liquiditätsfalle interpretieren. Nur: Wenn man das tut, dann ist, anders als Merz nahelegt, die Verschuldung Deutschlands nicht das Problem, sondern Teil der Lösung, weil mit ihrer Hilfe ein schlimmerer Einbruch verhindert wurde.

Ein guter Chef muss nicht alles wissen, aber schon, was er nicht weiß

Über den verqueren Tweet könnte man zur Tagesordnung übergehen, stünden zum Thema Schulden und Zinsen nicht schwierige Entscheidungen an, bei denen man sich wünschen würde, dass Berliner Politiker über sehr gute Berater verfügen. Zum Beispiel die: Soll man nach dem Ende der Pandemie, wie vom Grundgesetz verlangt, wieder zur Schuldenbremse zurückkehren? Und wenn ja, wie schnell? Einerseits ist diese Rückkehr geboten, denn an den Gründen für deren Einführung hat sich ja durch die Pandemie nichts geändert. Weil der Altersdurchschnitt der Bevölkerung weiter steigt, nehmen auch die Soziallasten zu, die die aktive Generation tragen muss. Eine solide Finanzierung ist da Pflicht.

Andererseits zeigt sich in der Pandemie wieder, wie viel langsamer die deutsche und die EU-Wirtschaft wachsen im Vergleich zur amerikanischen. Das hängt auch mit den vergleichsweise niedrigen Investitionen des deutschen Staates zusammen. Dazu gibt es keine einfachen Lösungen, aber eben auch keine ehrliche Diskussion. Und was ist, wenn die Zeit niedriger Zinsen plötzlich vorbei sein sollte? Wegen der Billionen-Ausgaben-Programme von Präsident Joe Biden ist das durchaus möglich. Zur Ehrenrettung von Merz muss man einräumen, dass sich auch Politiker der Opposition nicht an diese Themen heranwagen.

Für jeden und jede, die in Deutschland Verantwortung in der Wirtschaftspolitik übernehmen wollen, gibt es ein paar nützliche Rollenvorbilder. An erster Stelle Ludwig Erhard, wer sonst? Der erste Bundeswirtschaftsminister in Bonn war ausgebildeter Diplomkaufmann, Betriebswirt und Soziologe. Sein Verdienst lag darin, dass er die Bedeutung der Freiheit für die durch Krieg und Nationalsozialismus zerstörte deutsche Wirtschaft erkannte. Und dass er seine Ideen kommunizieren konnte ("soziale Marktwirtschaft", "Wohlstand für alle"). Der erste Wirtschaftsminister der SPD, Karl Schiller, modernisierte die Wirtschaftspolitik nach der ersten Rezession der jungen Bundesrepublik. Schiller war, eine große Ausnahme, selbst Wirtschaftsprofessor und ließ das seine Umwelt auch spüren. Er hätte gewusst, was die Liquiditätsfalle ist. Erhard und Schiller zeichnete nicht ihr Spezialwissen aus, sondern ihr Gefühl für die wichtigen Aufgaben der Zeit und die richtigen Berater.

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