Süddeutsche Zeitung

Frickes Welt:Angela und das Sommermärchen

Lesezeit: 2 min

Vor zehn Jahren begann Angela Merkel als Bundeskanzlerin. Vor zehn Jahren begann auch die Arbeitslosigkeit im Land stark zu sinken. Fragt sich nun, wie diese Dinge zusammenhängen.

Vor zehn Jahren begann Angela Merkel als Kanzlerin. Vor zehn Jahren begann auch die Arbeitslosigkeit im Land stark zu sinken. Seitdem sind fast vier Millionen Jobs dazu gekommen. Nun gibt es drei Möglichkeiten, das zu deuten: Merkels Politik erklärt, dass der Aufschwung immer noch da ist. Oder das langjährige Jobwunder erklärt, warum die Kanzlerin noch da ist. Option drei: beides Zufall. Eher unwahrscheinlich.

Dass die Kanzlerin nicht mehr da wäre, wenn wir noch fünf Millionen Arbeitslose hätten, ist anzunehmen, aber schlecht zu belegen. Interessanter ist die Frage, ob Merkel das Rezept für lange Jobaufschwünge kennt - das wäre Potenzial für den Wirtschaftsnobelpreis, wo sie den anderen, den Friedensnobelpreis, schon nicht bekommen hat. Das Problem ist: Nach aller Orthodoxie und damals gängiger deutscher Wirtschaftslehre hätte es den Aufschwung ab 2005/06 gar nicht geben dürfen. Als Merkel ihren ersten Koalitionsvertrag mit der SPD vorstellte, revidierten Analysten ihre Konjunkturprognose nach unten. "Überkommene Rezepte, kaum Reformen", hieß es, zu viel Reichensteuer, zu wenig Durchbruch. Das war prophetisch: Bis auf die inzwischen wieder relativierte Rente mit 67 gab es keine größere Reform mehr. Kaum ein anderes Land hat nach OECD-Rangliste von 2007 bis 2014 so wenig reformiert. Und dennoch reüssiert.

Als die Wirtschaft 2006 um vier Prozent zulegte und die Arbeitslosigkeit rasch zu fallen begann, wurde das zum - damals in Mode - Sommermärchen erklärt. Da schwang mit: So etwas vergeht ja. Verging es aber nicht. Seither kursiert im Land die grobanalytische Ersatzdeutung, dass Merkel eben kam, als die gelobten Reformen des Vorgängers zu wirken begannen. Mutti zur rechten Zeit. Gerd Schröder war's.

Anno 2005 hatte auch das noch anders geklungen. Da polterten Absturzpropheten, dass Schröders Reformen ja bestenfalls ein erster Schritt gewesen sein könnten. Da wurde trotz Hartz- und anderen Reformen noch geunkt, dass "Deutschlands Modell im Nebel verschwunden" sei. Und Ifo-Chef Hans-Werner Sinn orakelte im Herbst unbekümmert, dass die Industriebeschäftigung ("im freien Fall") erst wieder steigen werde, "wenn die Löhne nach unten angepasst werden". Von wegen. Die Wende kam wenige Monate später. Ohne neuen Verzicht.

Wenn das kleine deutsche Wirtschaftswunder weder von Merkel-Reformen gekommen sein kann, die es nicht gab, noch daher, dass Deutschland davor so radikal umgebaut wurde, wie es sich liberal-orthodoxe Ökonomen immer gewünscht hatten - woher kam es dann?

Gut möglich, dass es eher ein Mix aus vielem war - und Glück. Dass die Weltwirtschaft just 2005 zum Boom ansetzte, die hiesige Bauwirtschaft 2005 erstmals seit dem Einheitscrash wieder wuchs und die Deutschen nach den mageren Jahren viel nachzuholen und keine Exzesse zu bewältigen hatten wie Spanier, Iren und Amerikaner. Und wir auch nie so reformbedürftig und die Industrie so schlecht aufgestellt waren, wie es uns jahrelang eingeredet wurde. Wahrscheinlich half auch die eine oder andere Schröder-Reform ein bisschen. Später wurde fleißig gemerkelt: ein Konjunkturpaket zum Start, noch eins nach dem Crash 2009, dazwischen ein bisschen fein- oder zurückreformieren - gerade so, dass es reicht, die Wirtschaft nicht wieder kriseln zu lassen. Kein Rezept für immer. Oder für ein wirkliches Wirtschaftswunder. Aber geeignet zu verstehen, warum das kleine Jobwunder immer noch da ist. Und Frau Merkel mit ihm.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2733876
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 13.11.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.