Süddeutsche Zeitung

Freihandelszone in Shanghai:Angriff auf Chinas Wirtschaftssystem

Lesezeit: 4 min

29 Quadratkilometer Freiheit - und das mitten in China: Im Osten Shanghais eröffnet eine Freihandelszone. Es ist ein Experiment für das gesamte Land.

Von Marcel Grzanna, Shanghai

Dieser Sonntag ist ein regulärer Arbeitstag in China. Die Männer und Frauen an den Werkbänken des Landes kommen in die Fabrik, als sei nichts gewesen. Und auch in den Bürotürmen in Shanghai oder Peking werden Konferenzen abgehalten, so wie jeden Tag, mittags geht es dann in die Kantine. Das ganze Land arbeitet vor - für ein paar freie Tage. Am 1. Oktober ist Nationalfeiertag, danach gibt es Urlaub. So ist es immer Ende September.

In diesem Jahr ist der Sonntag vor den Ferien jedoch mehr als nur ein lästiger Arbeitstag. Am 29. September, wenn das ganze Land schuftet, eröffnet im Osten von Shanghai im Stadtteil Pudong eine 29 Quadratkilometer große Freihandelszone. Lange war darüber nur spekuliert worden, nun hat es der Staatsrat in Peking bestätigt: 29 Quadratkilometer ökonomische Freiheit - und das mitten in China.

19 Industriezweige sollen profitieren: weniger Steuern, weniger Bürokratie, keine Zölle. Die Zone erstreckt sich vom Norden, wo der Jangtse ins ostchinesische Meer fließt, entlang der Küste bis zur Bucht von Hangzhou. Teile dieses Gebiets gehören schon heute zu einer Sonderwirtschaftszone, in der Handel und Import von Produkten zu günstigen steuerlichen Konditionen und ohne Zölle möglich sind.

Die eigentliche Sensation der neuen Zone ist jedoch die Öffnung des Finanzsektors. Ausländische Banken dürfen arbeiten, wie sie es in Frankfurt oder London auch tun. Erstmals können sie sich dann mit den chinesischen Instituten in einem fairen Wettbewerb messen.

Angeblich soll in der neuen Zone bald schon die chinesische Währung frei konvertierbar sein. Bislang hält die Regierung in Peking den Yuan bewusst schwach, um die Exportwirtschaft nicht zu gefährden. Ob das gelingen kann, zwei Währungen in einem Land - niemand weiß das genau. Fest steht nur: Die 29-Quadratkilometer-Zone ist ein Angriff auf das bestehende ökonomische System in China. Vor allem auf die Allmacht der Banken.

Bislang ist die chinesische Bankenwelt recht übersichtlich: Vier große staatliche Institute haben sich den Markt im Wesentlichen aufgeteilt. Sie bestimmen, wer ein Darlehen bekommt. Und das sind vor allem die Staatskonzerne. Fällt mal ein Kredit aus, haftet notfalls die Regierung. Kleine, private Unternehmen erhalten so gut wie kein Geld von den Banken. Und das ist brandgefährlich.

Die Volksrepublik steht ökonomisch am Scheideweg: "Reform jetzt oder Kollaps", so formulierte es zuletzt selbst die an sich recht zurückhaltende Europäische Handelskammer in einem Positionspapier. Viele Jahre sorgten die billigen Arbeitskräfte für den entscheidenden Vorteil der Chinesen, doch die Löhne steigen. Um im Wettbewerb zu bestehen, muss die Wirtschaft umgebaut und die Unternehmen innovativer werden, doch die Kreditpolitik der Staatsbanken verhindert das. Stattdessen wächst die Wirtschaft nur noch durch Investitionen und staatliche Aufträge für die maroden volkseigenen Betriebe.

Bo Chen ist Professor an der Shanghaier Universität für Wirtschaft und Finanzen. Er empfängt in seinem Büro, ein Holzschreibtisch steht an der Wand, darauf ein paar Flaschen Wasser, sonst nichts. Eine karge Kammer im Vergleich zu den üppig eingerichteten und quadratmeterstarken Büros vieler Funktionäre in China. Und doch: Bo hat die Regierung bei der Konzeption der Freihandelszone beraten. Im April klingelte erstmals sein Telefon, erzählt er. Beamte baten um seine Meinung.

In unregelmäßigen Abständen schauten in den vergangenen Monaten immer wieder Funktionäre im engen Büro des Professors vorbei. Die Tür blieb stets geschlossen, die Besucher baten um Stillschweigen. "Es waren allgemeine Fragen, die man uns gestellt hat", so viel kann Bo verraten. "Keine Details. Die Angst der Beamten war groß."

Der Grund für die Geheimniskrämerei: Die Reformen sind umstritten in der Partei. Der wichtigste Befürworter ist Chinas neue Premierminister Li Keqiang. Er ist seit März im Amt, er hat sich für die neue Freihandelszone stark gemacht. Im November will er das Zentralkomitee der Partei von der Machbarkeit der Reformen überzeugen. Li und seine Leute scheinen begriffen zu haben, dass Marktwirtschaft und fairer Wettbewerb nachhaltiges Wachstum schaffen.

Vordergründig gibt es nur Zustimmung, Reformen sind immer gut in China. Kaum ein Wort ist in der Volksrepublik so positiv konnotiert wie "Reform". Deng Xiaoping hat den Begriff populär gemacht, er war es, der das Land nach den Mao-Jahren und der Kulturrevolution geöffnet hat. Jedes Schulkind bekommt heute im Unterricht seine Reformpolitik beigebracht. Wer wagt schon ernsthaft, sich dagegen zu stellen? Öffentlich kaum jemand. Im Hintergrund ist der Widerstand jedoch gewaltig: Die mächtigen Banken sind dagegen, die Staatskonzerne sowieso, vor allem die Ölindustrie opponiert. Jahrelang garantierte das System den Beamten ein stattliches Zusatzgehalt, sie ließen sich schmieren. Damit soll nun Schluss sein.

Im Gegensatz zum Rest des Landes soll es in der 29-Quadratkilometer-Zone sogenannte Negativlisten geben. Sie sind konkrete Leitfäden, was ein Unternehmer alles nicht darf. Bislang gibt es nur Positivlisten. Auf denen steht zum Beispiel, welche Stempel nötig sind, um etwa eine Baugenehmigung von einer Behörde zu bekommen. Die Folge: massive Korruption.

"Die Funktionäre wären die Verlierer, weil sie Teile ihrer Macht und ihres Geldes an die breite Masse abtreten müssten", sagt auch der Ökonom Liu Shengjun von der chinesisch-europäischen Wirtschaftsschule CEIBS. Er sitzt auf dem Balkon der Schule, von hier aus hat man einen exzellenten Blick auf den Pu-Fluss, der die Stadt teilt, auf Puxi, das alte Zentrum im Westen, wo einst die Kolonialmächte residierten. Und auf Pudong im Osten, mit den Wolkenkratzern und der neuen Freihandelszone.

Liu hält die Zone für einen "smarten Ansatz". Wie lange die Testphase laufen wird, wann und ob das Konzept jemals auf den Rest des Landes übertragen werden kann, ist ungewiss. Liu jedenfalls hat seine Zweifel: "Dass die Reformen den gewünschten Erfolg bringen, ist das Szenario mit der geringsten Wahrscheinlichkeit. Zu viele Funktionäre und Beamte wollen keine Reform. Aber sie sind gut darin, ihren Vorgesetzten etwas vorzumachen."

Die neue Regierung probiert es trotzdem aus. An einem Sonntag der Arbeit startet China einen Feldversuch.

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SZ vom 28.09.2013
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