Süddeutsche Zeitung

Freakonomics (I):Als der Kindergarten die Eltern bestrafte

Lesezeit: 6 min

Anreize können viele Rätsel des täglichen Lebens lösen. Schon kleine Belohnungen und Strafen entfalten eine erstaunliche Macht. Falsche Anreize richten allerdings auch erstaunliche Schäden an.

Steven D. Levitt und Stephen J. Dubner *)

Im Folgenden geben wir einen Auszug aus dem Buch "Freakonomics" wieder. Es ist jetzt in deutscher Sprache erschienen und hat in den USA bereits für Furore gesorgt hat, denn es kratzt an der Oberfläche dessen, was wir täglich sehen.

Die Autoren weisen nach, dass konventionelles Wissen einer genaueren Prüfung häufig nicht standhält. Und: Dass mit Hilfe einfacher Anreize viele Rätsel des Lebens gelöst werden können.

Stellen Sie sich für einen Augenblick vor, Sie seien der Leiter einer Kindertagesstätte.

Die Regeln besagen eindeutig, dass die Kinder um vier Uhr nachmittags abgeholt werden müssen. Aber die Eltern kommen oft zu spät. Die Folge: Am Ende des Tages bleiben ein paar ängstliche Kinder und zumindest ein Betreuer zurück, die gemeinsam darauf warten, dass die säumigen Eltern erscheinen. Was kann man dagegen tun?

Zwei Wirtschaftswissenschaftler, die von diesem Dilemma gehört hatten - wie sich zeigte, kam es recht häufig vor -, boten eine Lösung an: Die säumigen Eltern sollten eine Strafe zahlen. Es gab schließlich keinen Grund für die Tagesstätte, diese Kinder kostenlos zu betreuen.

Die Ökonomen beschlossen, ihren Vorschlag in der Praxis zu testen, indem sie eine entsprechende Untersuchung bei zehn Tagesstätten in Haifa, Israel, durchführten.

Der Test lief über zwanzig Wochen, und die Strafe wurde nicht sofort eingeführt. Während der ersten vier Wochen notierten die Ökonomen lediglich, wie viele Eltern zu spät kamen; im Durchschnitt gab es acht Fälle pro Woche.

In der fünften Woche wurde den Eltern dann erklärt, wer sein Kind mehr als zehn Minuten zu spät abhole, müsse pro Kind und Fall umgerechnet drei Dollar Strafe zahlen. Die Strafe wurde auf die monatliche Rechnung der Eltern aufgeschlagen, die ungefähr 380 Dollar betrug.

Nachdem diese Regelung eingeführt worden war, ging die Zahl der Verspätungen prompt - nach oben. Bald darauf gab es zwanzig Verspätungen pro Woche; der ursprüngliche Durchschnitt hatte sich also mehr als verdoppelt. Der Schuss war schlicht nach hinten losgegangen.

Ökonomie ist im Kern eine Untersuchung über die Wirkung von Anreizen. Es geht dabei um die Frage, wie die Leute bekommen, was sie wollen oder brauchen, besonders wenn andere Leute dasselbe wollen oder brauchen.

Ökonomen lieben Anreize. Sie lieben es, sich Anreize auszudenken, sie einzusetzen, sie zu studieren und daran herumzubasteln.

Der typische Ökonom glaubt, dass die Welt noch kein Problem erfunden hat, das er nicht lösen könnte, wenn er freie Hand hätte, das passende Schema von Anreizen zu konstruieren.

Seine Lösung ist vielleicht nicht immer schön - sie kann Zwang oder außerordentlich hohe Strafen oder die Verletzung von Bürgerrechten einschließen -, aber das ursprüngliche Problem, seien Sie versichert, wird dadurch gelöst.

Ein Anreiz ist eine Kugel, ein Druckmittel, ein Schlüssel: Manchmal ist es nur eine Kleinigkeit mit der erstaunlichen Macht, eine Situation zu ändern. Wir alle lernen, auf Anreize zu reagieren, negative und positive, die uns das Leben präsentiert.

Wenn ein Kleinkind an die heiße Herdplatte fasst, verbrennt es sich die Finger. Wenn ein Schüler lauter Einser heimbringt, bekommt er ein neues Fahrrad. Wenn er im Klassenzimmer dabei erwischt wird, wie er in der Nase bohrt, wird er ausgelacht.

Wenn er beim Jurastudium versagt, muss er vielleicht im Versicherungsunternehmen seines Vaters arbeiten. Macht er seine Sache dann aber so gut, dass sich ein Konkurrenzunternehmen für ihn interessiert, macht er dort Karriere und muss nicht mehr für seinen Vater arbeiten.

Ist er über seinen neuen Job als leitender Angestellter so begeistert, dass er mit überhöhter Geschwindigkeit nach Hause fährt, brummt ihm die Polizei ein saftiges Strafgeld auf.

Wenn er aber seine Verkaufsvorgaben übertrifft und am Ende des Jahres einen Bonus kassiert, stört ihn der Strafzettel nicht weiter, und er kann sich jetzt sogar die neue Superküche leisten, die er schon immer haben wollte - wo sich seine kleine Tochter nun die Finger am Herd verbrennt ...

Ein Anreiz ist einfach ein Mittel, mit dem man Leute dazu bewegt, mehr Positives und weniger Negatives zu tun. Aber die meisten Anreize ergeben sich nicht von selbst.

Irgendjemand - ein Ökonom oder Politiker, ein Vater oder eine Mutter - muss ihn erfinden. Ihre dreijährige Tochter isst eine ganze Woche lang das Gemüse auf?

Dafür darf sie sich im Spielzeugladen etwas aussuchen. Eine große Stahlfabrik stößt zu viele Abgase aus? Das Unternehmen muss für jeden Kubikmeter, der über die zulässige Menge hinausgeht, Strafe zahlen.

Zu viele Leute zahlen ihre Steuer nicht vollständig? Es war der Ökonom Milton Friedman, der in den USA zur folgenden Lösung beigetragen hat: Die Steuer wird automatisch vom Lohn einbehalten.

Grundsätzlich gibt es drei verschiedene Arten von Anreizen: ökonomische, soziale und moralische. Sehr oft sind alle drei Varianten in einem einzigen Schema zusammengefasst. Das gilt beispielsweise für die amerikanischen Anti-Raucher-Kampagnen der letzten Jahre.

Zusätzliche drei Dollar "Sündensteuer" pro Packung sind ein starker ökonomischer Anreiz gegen den Kauf von Zigaretten. Rauchverbote in Restaurants und Bars sind ein mächtiger sozialer Anreiz.

Und wenn die US-Regierung versichert, dass Terroristen sich Geld verschaffen, indem sie Zigaretten auf dem Schwarzmarkt verkaufen, wirkt das als ziemlich störender moralischer Anreiz.

Einige der überzeugendsten Anreize werden zur Verhinderung der Kriminalität eingesetzt. Angesichts dieser Tatsache könnte es lohnend sein, eine vertraute Frage - "Warum gibt es in der modernen Gesellschaft so viel Kriminalität?" - einmal auf den Kopf zu stellen: "Warum gibt es nicht sehr viel mehr Kriminalität?"

Immerhin begegnen jedem von uns täglich Gelegenheiten, andere Menschen zu verletzen, zu bestehlen oder zu betrügen. Das Risiko, ins Gefängnis zu müssen - und auf diesem Weg den Job, das Haus und die Freiheit zu verlieren, was alles schwere ökonomische Strafen sind -, stellt sicherlich einen starken Anreiz dar.

Aber im Zusammenhang mit Kriminalität reagieren die Leute auch auf moralische Anreize (sie wollen nichts tun, was sie für falsch halten) und soziale Anreize (sie wollen von anderen nicht als jemand gesehen werden, der etwas Falsches tut). Gegen bestimmte Arten von Fehlverhalten wirken soziale Anreize äußerst stark.

In Anlehnung an den scharlachroten Buchstaben, den Hester Prynne tragen musste, bekämpfen viele amerikanische Städte die Prostitution jetzt mit einer "Beschämungs"-Offensive und zeigen Fotos von verurteilten Zuhältern (und Prostituierten) auf Webseiten oder im Lokalfernsehen. Was wirkt abschreckender: eine Strafe von 500 Dollar für das Ansprechen einer Prostituierten oder der Gedanke, dass die Freunde und Angehörigen das eigene Foto auf dem Computerbildschirm anstarren?

So tut also die moderne Gesellschaft ihr Bestes bei der Bekämpfung der Kriminalität durch ein kompliziertes, willkürliches und flexibles Netzwerk ökonomischer, sozialer und moralischer Anreize.

Manche Leute mögen einwenden, dass wir dabei keine besonders gute Arbeit leisten. Aber langfristig betrachtet ist das eindeutig nicht wahr. Sehen wir uns den historischen Trend bei Morden an (Kriege nicht eingerechnet), die der zuverlässigste Maßstab für Kriminalität und das beste Barometer für die gesamte Kriminalitätsrate einer Gesellschaft abgeben.

Diese Statistiken, zusammengestellt von dem Kriminologen Manuel Eisner, geben Auskunft über die historische Entwicklung in fünf europäischen Regionen.

Das steile Absinken dieser Zahlen im Laufe der Jahrhunderte lässt den Schluss zu, dass die gemeinschaftlich entwickelten Anreize zur Abwehr einer der stärksten Bedrohungen im Leben - ermordet zu werden - immer besser funktionieren.

Was war also falsch bei dem Anreiz, den man in den israelischen Tagesstätten gesetzt hatte?

Wahrscheinlich sind Sie schon darauf gekommen, dass die drei Dollar Strafe einfach zu gering waren. Bei diesem Preis konnten die Eltern eines einzelnen Kindes jeden Tag zu spät kommen und hatten am Ende des Monats nur sechzig Dollar zusätzlich zu zahlen - gerade mal ein Sechstel der Grundgebühr. Gemessen an den Preisen für einen Babysitter, ist das ziemlich billig.

Was wäre passiert, wenn die Strafe hundert statt drei Dollar betragen hätte? Das hätte den Verspätungen wahrscheinlich ein Ende bereitet, aber auch für eine Menge böses Blut gesorgt. (Jeder Anreiz ist seiner Natur nach ein Tauschgeschäft; es geht darum, einen akzeptablen Mittelweg zu finden.)

Aber in diesem Fall gab es noch ein weiteres Problem. Der ökonomische Anreiz (die Strafe von umgerechnet drei Dollar) war der Ersatz für einen moralischen Anreiz (die Schuldgefühle, die Eltern bei einer Verspätung empfinden sollten).

Für ein paar lumpige Dollar konnten sich die Eltern von ihren Schuldgefühlen freikaufen. Außerdem signalisierte die geringfügige Strafe den Eltern, dass ihre Verspätungen kein so großes Problem darstellten.

Wenn jedes Kind, das zu spät abgeholt wurde, für die Tagesstätte nur eine Belastung im Gegenwert von drei Dollar bedeutete, warum sollte dann jemand sein Tennisspiel früher abbrechen, um seinen Sprössling pünktlich abzuholen? Als die Strafe in der siebzehnten Woche der Untersuchung wieder aufgehoben wurde, blieb die Zahl der zu spät kommenden Eltern denn auch tatsächlich unverändert. Jetzt konnten sie zu spät kommen, ohne eine Strafe zahlen und ohne sich schuldig fühlen zu müssen.

Solche merkwürdigen und mächtigen Wirkungen liegen im Wesen von Anreizen. Eine winzige Kleinigkeit kann zu drastischen und nicht vorhersehbaren Ergebnissen führen.

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Quelle:
* Steven Levitt ist seit 1999 Wirtschaftsprofessor an der University of Chicago und Herausgeber des <i>Journal of Political Economy</i>. Stephen Dubner hat von 1994 bis 1999 als Herausgeber und Journalist für das <i>New York Times Magazine</i> gearbeitet. Heute schreibt er u.a. für den <i>New Yorker</i>, die <i>Washington Post </i>und <i>Time</i>.
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