Frauen in Tech-Berufen:Mehr als Quote

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Nur etwa jede sechste IT-Fachkraft ist weiblich. Junge Hackerinnen und Personalchefs von Unternehmen wollen das ändern. Und dann gibt es Menschen, die machen es einfach.

Von Ekaterina Kel

Raffaela Rein hat nicht zufällig Business Finance studiert, sie kalkuliert nämlich gern. Das tat sie auch 2012, als sie vor einer Entscheidung stand - weiter studieren oder arbeiten? Sie kalkulierte also: Der Master in Oxford würde sie 12 500 Euro kosten, genauso viel Geld müsste sie ungefähr in die Hand nehmen, um ein Start-up zu gründen. Sie entschied sich. Und gründete gemeinsam mit dem Softwareentwickler Martin Ramsin ein Jahr später "Careerfoundry", eine Online-Schule für alle, die in die IT-Branche einsteigen wollen. Das Unternehmen mit Sitz in Kreuzberg, das eigenen Angaben zufolge nach fünf Jahren Umsatzverdopplungen verzeichnet und 45 Menschen beschäftigt, verdankt seine Geschäftsidee ebenfalls einer Kalkulation von Rein. Die 31-jährige Münchnerin hat nämlich die Arbeitsmarkt-Zahlen genau studiert und erkannt: Es gibt eine "Riesenmarktlücke". Viele offene IT-Stellen und eine Nachfrage nach Fachkräften "auf Höchstniveau", wie die Bundesagentur für Arbeit das formuliert. Genau in diese Lücke hat Rein ihre Firma verpflanzt.

Tatsächlich schafft der digitale Wandel viele neue Jobs: Etwa 97 000 offene Stellen in IT- und naturwissenschaftlichen Dienstleistungsberufen zählt die Arbeitsagentur aktuell, 15 Prozent mehr als im Vorjahr. Im Moment bleibt fast jede zweite Stelle länger als drei Monate vakant. Gesucht werden vor allem sogenannte Experten, Menschen also, die vier Jahre Informatik studiert haben.

Raffaela Rein hat ein Start-up gegründet, das den Einstieg in digitale Berufe erleichtern will. (Foto: oh)

Rein sieht das etwas lockerer: "Die Unternehmen sind einfach froh, überhaupt jemanden zu finden. Die gucken vor allem, ob man etwas kann." Know-how, das geht auch in weniger als vier Jahren. Bei Careerfoundry sogar in nur sechs bis zehn Monaten, online, jederzeit, neben dem Beruf. Anschließend könne man als Web Developer, User Interface- oder User Experience-Designer arbeiten. Rein wirbt sogar mit einer Jobgarantie - Platzierung oder Geld zurück. 95 Prozent Vermittlungsquote, heißt es auf der Homepage. Zu den Arbeitgebern zählten Firmen wie Google, Paypal oder Netflix.

Ihre Kurse sind flexibel und von überall zugänglich - das spricht viele Frauen an

Jeder fünfte deutsche Kunde kommt über einen sogenannten Bildungsgutschein zu Careerfoundry. Das ist ein Förderinstrument der Arbeitsagentur, das Arbeitslose bekommen, um eine Weiterbildung oder eine Umschulung zu absolvieren. Ziel ist es, auf dem sich schnell verändernden Arbeitsmarkt wieder oder überhaupt einen Platz zu finden. Die Arbeitsagentur listet Hunderte Weiterbildungsstätten für IT-Berufe auf ihrem Portal auf, darunter auch Careerfoundry. Ein Unternehmen, das gleichzeitig Bildungsinstitution und Jobvermittler ist? Aus Reins Sicht geht das Hand in Hand. "Wir sind kein Sozialunternehmen", sagt sie, "aber es profitieren alle, die Kunden, die Unternehmen und die Gesellschaft."

Denn die Gesellschaft braucht IT-Fachkräfte, Menschen, die den digitalen Wandel gestalten. Im besten Fall viele Frauen, denn die kommen in diesem Bereich bisher viel seltener zum Zug.

In IT-Berufen sind hierzulande nur 16 Prozent weiblich, in sogenannten Mint-Berufen (die Abkürzung steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) insgesamt nur 15 Prozent. "Sehr gering", findet die Bundesagentur für Arbeit im Vergleich zum Durchschnitt in allen Berufen von 46 Prozent. Der Frauenanteil wächst sehr langsam. Und ein Blick auf den Nachwuchs verrät, dass die Situation sich so schnell nicht ändern wird: Nur neun Prozent der Auszubildenden in IT-Berufen und 21 Prozent der Informatikstudierenden sind Frauen.

In Reins Firma ist dagegen die Hälfte der Kunden weiblich. Verglichen mit den bescheidenen Zahlen von der Arbeitsagentur fast schon ein Wunder. Warum das so ist? Vielleicht, weil sie als öffentliches Gesicht des Start-ups mehr Aufmerksamkeit von den Medien bekomme und Frauen sich dadurch mehr trauten, mutmaßt sie. Oder weil die Kurse, flexibel und von überall zugänglich, für alle möglichen Lebenssituationen geeignet sind, für Alleinerziehende, Mütter mit Kleinkindern, Frauen, die keine Lust haben, als einzige in Seminaren voller Männer zu sitzen und nicht als gleichwertig wahrgenommen zu werden.

An feministischen Überlegungen hat Rein aber kein ausgeprägtes Interesse. "Was bringt es, immer zu sagen, dass Frauen benachteiligt sind? Wir müssen stattdessen fragen, wie wir es ändern", sagt sie. Und weil Frauen "doch genauso gut sind", lautet ihre Botschaft: "Macht doch einfach mal! Viel kann nicht schiefgehen: Es gibt viele Jobs, und die sind sehr gut bezahlt." Als IT-Fachfrau würde man in vielen Unternehmen mit offenen Armen empfangen werden, meint Rein.

(Foto: SZ)

Digitalisierung und die Debatte darüber sind noch immer sehr männlich geprägt

Nur eineinhalb Kilometer Luftlinie entfernt, am Görlitzer Bahnhof in Berlin, sitzen Frauen, die das kritischer sehen. Frauen, die sich in erster Linie als Hackerinnen verstehen, aber direkt danach auch als Feministinnen, wie die 28-jährige Fiona Krakenbürger. Stereotype von soziophoben Informatikern, Klischees von technikdummen Mädchen und eine Macho-Kultur in der Start-up-Szene wären dafür verantwortlich, dass es immer noch so wenig Frauen in der IT gibt, sagt sie. "Der Technologiebegriff ist männlich besetzt, das heißt, durch männliche Perspektiven geprägt." Man höre Technologie - und sehe Männer an Computern oder mit Robotern in blauen Räumen. Dabei sei eine Brustpumpe ebenso Technologie. Oder eine App, die den Menstruationszyklus aufzeichnet und analysiert. Aber an solche Dinge denke eben niemand sofort bei dem Wort Technologie.

Mit einer befreundeten Hackerin hat sie vor zwei Jahren "Heart of Code" gegründet, eine Gruppe nur für Frauen, denen Programmieren und Technik sehr am Herzen liegen. Sie wollen die Szene etwas aufmischen, "Diversität reinbringen". Etwa 150 Frauen, zwischen 20 und 40 Jahren, kommen regelmäßig zu ihren Veranstaltungen. Es gibt Lerngruppen für die Programmiersprache Python oder IT-Sicherheit, dazu Lötzeug zum Basteln. Ein Damensalon zum "Abnerden", wie es auf der Homepage heißt.

Ähnliche Gruppen gibt es überall im Land verteilt, in Leipzig die "Codegirls" etwa, oder in Frankfurt die "Techettes". Sie wünschen sich eine Tech-Welt mit mehr Frauen und sie schaffen einen Ort, in dem Frauen unter sich, im "Safe Space" sind und sich in selbstorganisierten Kursen das Programmieren beibringen. Das Bedürfnis danach sei ziemlich groß, sagt Krakenbürger. Solche Orte würden "übliche Dynamiken aushebeln", die zum Beispiel auf männlich dominierten Tech-Konferenzen spürbar seien.

Diese Kurse sind kein neues Phänomen: Sie waren früher weniger hip, dafür aber stärker institutionalisiert. In den Achtzigerjahren starteten Frauenkurse überall an Volkshochschulen oder in Frauenvereinen. Sie hießen zum Beispiel "Keine Angst vor dem Computer", wie der am 1984 gegründeten Frauencomputerzentrum in Berlin. Heute, mehr als 30 Jahre später, heißen sie "IT-Know-how", aber es gibt sie noch immer. Genauso, wie es immer noch diese Frauen gibt, die nicht wissen, wie man an einem Computer arbeitet. Manchmal sogar noch nie zuvor einen Computer angeschaltet haben. Das sagt Karin Reichel, Geschäftsführerin des Vereins.

"Damals wurden dieselben Debatten geführt", so die ehemalige Hochschullehrerin und Unternehmensberaterin. Mehr Frauen in Technik, das wolle man schon länger. Warum hat sich also bis heute nicht viel verändert? Weil Digitalisierung und die Debatten darüber nach wie vor sehr männerdominiert seien, meint Reichel. Weil "tradierte Rollenbilder" weiterhin existierten.

Reichel, in deren Zentrum Frauen aus allen Schichten kommen, hat eine Beobachtung immer wieder gemacht und sieht diese auch in der Wissenschaft bestätigt: Digitale Kompetenz verteilt sich nicht nur unfair auf Männer und Frauen, sondern ist auch nach Alter, Bildungsstand und Einkommen sehr unterschiedlich. Junge, gebildete Frauen aus einkommensstarken Familien hätten es auf dem Arbeitsmarkt jedenfalls eindeutig einfacher als ältere, ärmere Frauen, die vielleicht schon seit einigen Jahren nicht mehr arbeiteten.

Ein möglichst schneller Zugang zu den vielen neuen Stellen, die im Zuge der Digitalisierung entstehen, wäre eigentlich gerade für diese Frauen von Vorteil. So, wie es zum Beispiel Reins Firma verspricht, nur, dass sie ihr Versprechen nicht nur an Frauen richtet. Die Arbeitsagentur mahnt trotzdem zur Vorsicht: "All unsere Studien zeigen, dass eine abgeschlossene Berufsausbildung der beste Weg für eine stete, von Arbeitslosigkeit nicht betroffene Erwerbsbiografie ist", sagt eine Sprecherin.

Und obwohl "die Erhöhung des Frauenanteils in Mint-Berufen im Fokus" der Agentur ist, wie es in einer Analyse heißt, raten die Jobvermittler den Frauen trotzdem nicht ausdrücklich dazu, in Mint- oder IT-Berufe ein- oder umzusteigen, so die Sprecherin. Offenbar haben längst andere Akteure diese Aufgabe übernommen. Zuletzt entscheidet jede Frau selbst. "Man muss erst einmal beginnen", sagt Reichel. Raffaela Rein hat sich deshalb ein bisschen Coden beigebracht.

© SZ vom 13.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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