Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Ohne Quote geht es nicht

Viele junge Frauen sind überzeugt, dass ihnen die Welt offensteht. Sie werden damit Opfer der gleichen Gutgläubigkeit, die schon ihren Müttern und Großmüttern zum Verhängnis wurde.

Kommentar von Claus Hulverscheidt

Carla Kriwet wird also Vorstandsvorsitzende des Dialyse-Anbieters Fresenius Medical Care - sie ist damit in Zukunft neben Merck-Chefin Belén Garijo die zweite Frau, die einen der 40 Dax-Konzerne führt. Zwei von 40: Was klingt wie eine Nachricht aus dem Jahr 1980, ist tatsächlich eine Meldung vom Mai 2022. Damit könnte dieser Kommentar eigentlich beendet sein. Denn es ist alles gesagt.

Seit Jahrzehnten kämpfen Frauen darum, in Politik und Wirtschaft, beim Lohn und bei der Rente genauso behandelt zu werden, wie es die Herren ganz selbstverständlich für sich reklamieren und das Grundgesetz es verlangt. Frauen gehen auf die Straße, sie schreiben Essays, Flugblätter und Gesetzesanträge, und doch bleiben ihre Erfolge rar: Ob die Raumtemperatur im Büro, die Höhe von Supermarktregalen, die Dummy-Maße beim Auto-Crashtest - alles ist so kalibriert, als gäbe es nur Männer auf der Welt.

Einer der zentralen Gründe für diesen Skandal ist, dass jede Frauengeneration den Kampf von vorne beginnt. Obwohl ihnen ihre Mütter das Gegenteil erzählen, glauben viele Frauen mit Anfang 20, dass ihnen die Welt offensteht. Und wer wollte es ihnen auch verdenken: Sie sind im Schnitt fleißiger, gebildeter und produktiver als Männer, nichts spricht dagegen, dass sie es aus eigener Kraft schaffen können. Auch wollen sie sich nicht nachsagen lassen, dass sie Gesetze und Quoten nötig haben, die jeder Beförderung einen Anstrich der Gönnerhaftigkeit verleihen.

Mütter müssen zusehen, wie selbst unfähigste Männer beruflich an ihnen vorbeisprinten

Realität ist: Der schiere Umstand, dass eine Frau schwanger werden kann, dass sie keinem Männernetzwerk angehört, dass sie weniger laut "Hier!" schreit als der Herr im Nebenbüro, macht alle Startvorteile zunichte. Kommt dann wirklich Nachwuchs, zerreiben sich viele Mütter zwischen Kind und Karriere und müssen mitansehen, wie das eigene Einkommen und die Rentenansprüche verloren gehen und selbst unfähigste Männer beruflich an ihnen vorbeisprinten. Es ist ein Rückstand, der sich nie wieder aufholen lässt.

Viele Frauen, die mit 20 gegen die Quote waren, sind deshalb mit 50 dafür. Auch Kriwet gehört dazu. Denn klar ist: Freiwillig wird das Patriarchat die Macht nicht hergeben. Die Frauen (und ihnen wohlgesinnte Männer) müssen ihren Teil vielmehr erstreiten, ja erzwingen, und nicht länger zulassen, dass die Generationen gegeneinander ausgespielt werden.

Der Staat muss ihnen dabei zur Seite stehen, etwa indem er 50-Prozent-Quoten einführt, für Dax-Vorstände zum Beispiel. Doch Quoten sind nur ein Hilfsmittel. Entscheidender ist, dass die Kindererziehung, ja Kümmerarbeit insgesamt, gleichmäßiger zwischen den Geschlechtern verteilt und anders honoriert wird. Dafür braucht es Druck, Gesetze, finanzielle Anreize. Erst wenn die Frage, ob jemand körperlich imstande ist, ein Kind zu bekommen, bei der Beförderung und anderen Lebensentscheidungen keine Rolle mehr spielt, kann die Quote fallen.

Zwei von 40: Das klingt im Jahr 2022 wie ein Witz. Es ist keiner. Es ist Realität.

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