Frankreichs Wirtschaft in der Krise:Gelähmte Nation

Paris an einem regnerischen Tag

Trübe Stimmung am Eiffelturm: Die Franzosen haben das Gefühl, dass die Politiker jenseits der Lebenswirklichkeit der Menschen regieren.

(Foto: dapd)

"French-Bashing" ist en vogue. Erst kürzlich mokierte sich ein US-Manager über die "faulen Franzosen". Das Image des Landes bei ausländischen Politikern und Unternehmern ist tatsächlich verheerend. Auch in Frankreich selbst ist die Stimmung miserabel - weil die Feigheit der Regierenden einen verlogenen politischen Diskurs hat entstehen lassen.

Von Michael Kläsgen, Paris

Es sind zwei Ereignisse, über die die Zeit hinweggehen wird, und doch zeigen sich darin die großen Probleme Frankreichs. Da ereifert sich der US-Unternehmer Maurice Taylor über die "faulen Franzosen", die nur "drei Stunden am Tag" arbeiteten, dafür aber überdurchschnittlich viel Geld verlangten. Er investiere lieber woanders. Der Industrieminister lamentiert daraufhin, dass jenes "French-Bashing", das Draufhauen auf die Franzosen, gerade en vogue sei - womit er unzweifelhaft recht hat.

Und er fügte ebenso richtig hinzu, dass die Franzosen daran zum Teil selber schuld seien, weil sie ständig depressive Debatten über den Niedergang ihres Vaterlandes führten. Zur gleichen Zeit ernennt die neue staatliche Investitionsbank Ségolène Royal, die langjährige Lebensgefährtin des amtierenden Staatspräsidenten, mit dem sie vier Kinder hat, zur Vizepräsidentin.

Wie unter der Lupe zeigt sich hier das Frankreich des Jahres 2013: Das Image ist verheerend, der Amerikaner spricht aus, was viele Unternehmer und Politiker im Ausland denken. Frankreich sei "gerade dabei, grandios abzustürzen", warnte der deutsche FDP-Politiker Rainer Brüderle jetzt. Auch bei den Franzosen selbst ist die Stimmung miserabel. Und was macht die Politik? Anscheinend weiter so wie immer.

Die Analysen sind eindeutig

Warum schafft Frankreich es nicht, das Ruder herumzureißen? Neuen Elan zu entwickeln? Sich modern zu präsentieren? Zum industriellen Niedergang ist alles gesagt und alles geschrieben worden. Die Analysen sind eindeutig, alle kommen zum gleichen Befund, und zwar seit Jahren. Selbst die neue linke Regierung verschließt nicht die Augen vor der Realität.

Staatspräsident François Hollande beklagt wie sein konservativer Vorgänger Nicolas Sarkozy die gleiche Misere: 750.000 Industriearbeitsplätze gingen in den vergangenen zehn Jahren verloren. Das Außenhandelsdefizit stieg 2011 auf den Rekordwert von 70 Milliarden Euro. Noch 2002 hatte Frankreich einen Überschuss von 3,5 Milliarden Euro erwirtschaftet.

Der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit ist Ausdruck einer Schwäche der gesamten französischen Wirtschaft. Sie ist der Grund für die Milliardendefizite in den öffentlichen Kassen und für die hohe Arbeitslosigkeit. Sie begrenzt den Einfluss Frankreichs in Europa und in der Welt. Sie bedroht den Lebensstandard der Franzosen und gefährdet den Wohlfahrtsstaat.

Alle Verantwortungsträger sind sich einig, dass nun eine kritische Marke erreicht ist. Im Jahr 2000 trug die Industrie noch 18 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. 2011 waren es nur noch 12,5 Prozent, in Deutschland hingegen 26,2 Prozent, in Schweden 21,2 und in Italien 18,6 Prozent. Frankreich verlor entsprechend Marktanteile in Europa, wohin es knapp 60 Prozent seiner Güter und Dienstleistungen exportiert. Der Anteil schrumpfte von 12,7 im Jahr 2000 auf 9,3 Prozent 2011.

Im Teufelskreis

Frankreich steckt in einem Teufelskreis, das macht es für die Politik jedweder Couleur so schwierig, dagegen zu steuern. Die Industrie des Landes hat sich wenig spezialisiert. Die Firmen haben sich keine Nischen gesucht, in denen sie hohe Preise durchsetzen können. Sie haben sich auf dem Massenmarkt positioniert. Dort aber ist der Preiskampf besonders hart. Die Kosten in Frankreich sind dagegen überdurchschnittlich hoch, mit Ausnahme der Energie. Deshalb sind die Firmen von einem Kursanstieg des Euro stärker betroffen als deutsche Exportbetriebe. Sie haben kaum Gewinnmargen. Sie spüren den Anstieg sofort. Sie sind extrem "preissensibel". Daher der regelmäßige Aufschrei, wenn der Euro ein bestimmtes Niveau übersteigt.

Die französische Industrie hat sich in die Zange nehmen lassen: einerseits von einer "preisunempfindlichen" deutschen Exportwirtschaft, die von Sozialabgaben entlastet wurde und dank stagnierender Löhne wieder erstarkte; andererseits von Schwellenländern wie China, Indien, Südkorea, Brasilien und den Staaten Ost- und Südeuropas, deren Industrien dank niedrigerer Lohnstückkosten Preisevorteile gegenüber französischen Konkurrenten haben. Länder wie China und vor allem Südkorea schafften es zudem, die Preisvorteile in bessere Qualität und technologischen Fortschritt umzusetzen.

Frankreichs Unternehmen büßten deshalb Gewinnmargen ein. Diese sanken im vergangenen Jahrzehnt von 30 auf 21 Prozent, während sie in Deutschland stabil blieben oder sogar stiegen. Die Betriebsergebnisse der französischen Unternehmen insgesamt lagen im Schnitt um ein Drittel niedriger als in Deutschland. Entsprechend sank die Fähigkeit der Firmen, sich eigenständig zu finanzieren. Vielmehr stieg ihre Verschuldung. Die durch den Preiswettbewerb verursachte Finanzschwäche führte dazu, dass es den Firmen zudem an Kapital fehlte, um in Qualität und Innovation zu investieren.

Regulierungseifer der Politik

Ihre Produkte verloren daher unabhängig vom Preis an Attraktivität. Sie stellen zwar Produkte in vergleichbaren Industriezweigen her wie ihre deutschen Konkurrenten, sie fertigen Maschinen, Anlagen, Autos, Züge, Schiffe. Doch sie heben sich damit zu wenig von der Konkurrenz ab und reagieren zu selten auf die Nachfrage im Ausland. Damit schließt sich der Teufelskreis, der Ende der Neunzigerjahre einsetzte.

Dass sich Frankreich seither nicht daraus befreien konnte, liegt an Strukturproblemen: an den hohen Steuern, die eine Folge der hohen Staatsausgaben sind; an der überbordenden Verwaltung, am Regulierungseifer der Politik, die ständig die Richtung ändert und für Unternehmen nicht die nötige Verlässlichkeit bietet; und am schlecht funktionierenden Dienstleistungssektor. All diese Faktoren erschweren es Frankreich, sich von einer nachfrageorientierten zu einer stärker angebotsorientierten Volkswirtschaft zu entwickeln.

Voraussetzung dafür wäre, dass französische Firmen stark in Forschung und Entwicklung investieren. Der beschriebene Teufelskreis bewirkt jedoch, dass sie nur 1,4 Prozent des BIP dafür aufwenden und damit fast die Hälfte weniger als ihre deutschen Konkurrenten. Sie müssen an der falschen Stelle sparen. Mittelständlern fehlt es an Eigenkapital. Im Industriesektor erhalten sie zudem oftmals nur zu ungünstigen Bedingungen Kredite. Beteiligungsfirmen kehrten ihnen ebenfalls den Rücken. Sie haben ihr Engagement in Frankreich seit 2008 um die Hälfte reduziert. Versicherungskonzerne wie Axa, also klassische langfristige Investoren, beteiligen sich so gut wie überhaupt nicht an französischen Klein- und mittelgroßen Betrieben.

An Wettbewerbsfähigkeit büßte die französische Industrie auch ein, weil es eine Sozialpartnerschaft, die diese Bezeichnung verdiente, in Frankreich nicht gibt. Arbeitgeber und Arbeitnehmervertreter beäugen sich misstrauisch oder stehen sich feindlich gegenüber. Ihr "Sozialdialog" ist oft ein Monolog der Gehörlosen. Beide haben sich in vielen Branchen als unfähig erwiesen, Krisen oder auch nur Auftragsflauten zu antizipieren und gemeinsame Lösungen dafür zu finden. Am Ende standen beide als Verlierer da. Am schwachen Wachstum und der Rekordarbeitslosigkeit lässt sich das ablesen.

"Blut, Schweiß und Tränen"

Die CGT, die militanteste der fünf Gewerkschaften, wird von der Unternehmerseite regelmäßig zu Recht als der größte Blockierer identifiziert. Sie ist ein Sammelbecken für eine gesellschaftliche Gruppierung, die in Frankreich mit dem Begriff der "Malthusianer" bezeichnet wird. Dahinter verbergen sich kategorische Reformverhinderer und Fortschrittsgegner. Mit Geiselnahmen von Werksleitern oder bloßem Vandalismus sorgen sie regelmäßig auch im Ausland für Aufsehen. Sie bilden den harten Kern derjenigen, die in der Vergangenheit mit Massendemonstrationen Reformvorhaben zu Fall gebracht haben.

Von entscheidender Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Industrie wird es sein, ob der von Hollande eingeforderte "historische Kompromiss" der Sozialpartner umgesetzt wird. Die bislang in Kategorien des Klassenkampfes denkende CGT ist noch nicht bereit dazu. Kritische Beobachter sind sich einig, dass die Globalisierung aber von allen Wirtschaftsakteuren eine größere kollektive Intelligenz erfordert, als diese bisher an den Tag gelegt haben. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass die französische Industrie anpassungsfähiger auf den rapiden Wandel in der Weltwirtschaft reagieren kann.

Ausdruck der fehlenden Sozialpartnerschaft ist der rigide Arbeitsmarkt. Frankreich schlug Ende der 90er-Jahre eine gänzlich andere Beschäftigungspolitik ein als Deutschland. Statt den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren, erhöhte die 35-Stunden-Woche das volkswirtschaftliche Lohnniveau. Versuche, den Kündigungsschutz zu reduzieren, scheiterten. Arbeitgeber versuchen daher, unbefristete Festanstellungen mit Arbeitsverträgen zu umgehen, die kaum eine soziale Absicherung gewährleisten. So entstand ein zweigeteilter Arbeitsmarkt aus Beamten einerseits und einem wachsenden Prekariat. Vor allem für schlecht ausgebildete Franzosen unter 25 sind unsichere Kurzfristverträge heute die Regel.

Der Staat als Beschützer

Bei all dem wirken sich der Zentralstaat und das Staatsverständnis der Franzosen negativ auf die Reformfähigkeit des Landes aus. Der Staat gilt weithin als Beschützer. Keine Regierung, ob rechts oder links, traute sich bisher, seine Rolle kleinzureden oder Verzicht zu predigen. Obwohl die Schwächen des Landes seit Jahren hinlänglich bekannt sind, wagte es keine Regierung, den Beschäftigten in der Industrie zu erklären, dass der vorübergehende Verzicht auf Lohnerhöhungen helfen könnte, ihre Arbeitsplätze zu sichern. Das Wort "sparen" ist grundsätzlich verpönt und wird mit dem Unwort Austerität gleichgesetzt, also "Blut, Schweiß und Tränen".

Die Feigheit der Regierenden hat einen verlogenen politischen Diskurs entstehen lassen, der dazu dient, notwendige Reformen zu vertagen oder zu kaschieren. Politiker aller Parteien beschwören dagegen den "Wirtschaftspatriotismus", in Wahrheit gefährdet ihr fehlender Mut aber den Bestand des Wohlfahrtsstaates.

Dass das jeweilige politische Lager ihre Protagonisten unabhängig von ihrer Kompetenz protegiert, verstärkt das Gefühl in der Bevölkerung, dass in Paris eine politische Kaste jenseits der ökonomischen Realität und der Lebenswirklichkeit der Menschen regiert. Weil selbst die Regierenden trotz der Nöte keine übergeordnete Rationalität vorleben, denkt jede Gesellschaftsgruppe nur an die Verteidigung ihrer Besitzstände und Interessen. Nur ansatzweise lässt sich erkennen, dass sich in breiten Teilen der Gesellschaft die Einsicht durchsetzt, dass alle dabei verlieren.

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