Vom Sanitäter bis zur Chefärztin sind alle dabei. Seit Monaten demonstrieren und streiken die Mitarbeiter der öffentlichen Krankenhäuser in Frankreich. Die Weißkittel können nicht mehr, klagen sie. Zu mangelhaft sei die Ausstattung, zu groß die Arbeitsbelastung, zu schlecht die Bezahlung. Und wenn wieder einmal ein Todesfall Schlagzeilen macht, weil irgendwo im Land ein Notfallpatient auf einer Bahre in einem Klinikgang vergessen wurde, erklären die Gewerkschaften den Skandal prompt damit, dass das Krankenhauswesen selbst kurz vor dem Exitus sei. "Rettet die öffentlichen Krankenhäuser!", lautet der dramatische Aufruf an die Regierung.
Deren Problem ist, dass längst nicht nur in den Krankenhäusern Wut herrscht - sondern viele Berufsgruppen aufgebracht sind gegen die Regierung von Präsident Emmanuel Macron. Es brodelt in Frankreich, schon wieder. Auch Polizisten, Landwirte und zuvorderst all jene, die sich als Verlierer einer geplanten Rentenreform sehen, machen Druck. So sehr, dass die Frage in Paris zurzeit nur noch ist, wann und wie Macron und sein Premierminister Édouard Philippe diesen Druck aus dem Kessel lassen. Auf einmal? Oder etappenweise?
Den Krankenpflegern und Ärzten geben sie schon nach. An diesem Mittwoch will Philippe einen "substanziellen Notfallplan" für die staatlichen Krankenhäuser präsentieren. Finanziell könnte er die Übernahme von Milliardenschulden der Krankenhäuser durch den Staat beinhalten. Politisch geht es der Regierung bei dem Zugeständnis wohl darum, eine Verbindung der verschiedenen Proteste zu einer einzigen, massiven Bewegung zu verhindern. Denn von 5. Dezember an wollen die Beschäftigten der französischen Bahn SNCF und der Pariser Verkehrsbetriebe RATP in den Ausstand treten, um das Land lahmzulegen - aus Protest gegen die Rentenreform.
Ein Szenario wird in Macrons Umfeld besonders gefürchtet: Dass sich nicht nur die derzeit noch disparaten berufsständischen Streikbewegungen vereinigen, sondern diese klassischen Gewerkschaftsaktionen auch noch zur Wiederbelebung der Gelbwesten-Bewegung vom vergangenen Winter führen. In der Regierung steigt angesichts dieser Befürchtungen die Nervosität. Einzelne Kabinettsmitglieder streiten bereits öffentlich, welche Zugeständnisse in der Rentenpolitik vertretbar wären. Und Premier Philippe stellt sich darauf ein, dass es im Dezember wegen der heraufziehenden Proteste ungemütlich werden dürfte für ihn und seine Parlamentsmehrheit. "Wir sind schon durchgeschüttelt worden. Aber das war nichts gegen das, was wir jetzt bei der Rentenreform zu befürchten haben", wird Philippe von Le Monde zitiert. "Es wird sportlich."
Auch ganz allgemein schwindet die Unterstützung für die Reformpläne
Während Macron und Philippe nach Sparmöglichkeiten bei der Altersversorgung suchen, um bis zum angepeilten Start ihres neuen Rentensystems im Jahr 2025 neue Milliardendefizite zu vermeiden, verringern sie bei den Krankenhäusern den finanziellen Druck. Die Probleme sind altbekannt: Einerseits zahlen Frankreichs Krankenkassen viele Behandlungen, die aus medizinischer Sicht als überflüssig gelten. Andererseits wurden in den Krankenhäusern seit zehn Jahren Gehälter gedeckelt sowie Stellen und Betten weggespart. Nach ersten Hilfen in Höhe von mehr als 800 Millionen Euro, die von der Regierung seit Juni lockergemacht wurden, könnte Philippe zur Beschwichtigung jetzt neben der Schuldenübernahme weiteres Sofortgeld nachschießen.
Bei der noch heikleren Reform der Altersversorgung ist der Plan ein anderer: Es ist eines von Macrons Wahlversprechen, die 42 großteils berufsständischen Rentenkassen Frankreichs zu einem "Universalsystem" zusammenzuführen. Jeder eingezahlte Beitragseuro soll künftig gleich viel wert sein und die Lebensarbeitszeit der Erwerbstätigen insgesamt verlängert werden. Deshalb fürchten die Berufsgruppen, die ihre oft aus Steuergeld mitfinanzierten Kassen aufgeben sollen, um wertvolle Vorteile. Etwa die Pariser Métro-Fahrer, die teils mit 52 Jahren in den Ruhestand gehen können. Beschäftigte privater Firmen dürfen das erst mit 62 Jahren.
Doch je näher der Dezember-Protest rückt, desto zögerlicher wird der Staatschef bei der Umsetzung seines großen Rentenplans. Der vormals eisenharte Reformer Macron zeigt sich zuletzt ungewohnt zahm und kompromissbereit mit den Protestlern. Also eben nicht nur mit den Krankenpflegern oder Ärzten; ihnen versichert er: "Ich habe die Wut und Empörung gehört."
Vor 25 Jahren musste die Regierung nach Rentenprotesten zurücktreten
Auch für die Mitarbeiter von Staatsbetrieben wie der Bahn oder dem Stromversorger EDF, die ihre Sondersysteme verteidigen, hat Macron Verständnis: Sie müssten sich darauf verlassen können, dass für ihre Rente die Konditionen gälten, zu denen sie einst in ihre Betriebe eingetreten sind, sagte er jüngst. "Wahrscheinlich sollte man für sie nicht alles umstürzen." Zwar wolle er "die Reform durchziehen", zugleich aber "alles tun, damit es keine Blockade gibt".
1995, als die damalige Regierung unnachgiebig eine Rentenreform durchzusetzen versuchte, gab es solch eine Blockade. Nach wochenlangen Streiks musste sie unverrichteter Dinge zurücktreten. Heute sagen Mitglieder von Macrons Mehrheit wie der Abgeordnete Patrick Mignola: "Einen Streik von zwei Wochen halten wir nicht durch."
Nicht nur bei den Berufsgruppen, die um ihre Privilegien fürchten, wächst der Unmut. Obwohl viele Bürger die Abschaffung der Sonderkassen grundsätzlich wünschen, schwindet unter den Franzosen die Unterstützung zu Macrons systemischer Rentenreform: Nur noch 29 Prozent, so eine Umfrage, unterstützen sie. Die Zustimmung sinkt - der Druck im Kessel steigt.