Süddeutsche Zeitung

Frankreich:Rückkehr zur Agenda

Die Regierung will die Arbeitslosenversicherung umbauen und Erwerbslose zur Beschäftigung drängen.

Von Leo Klimm, Paris

Nach Ende der Gelbwesten-Krise nimmt Frankreichs Regierung ihre Wirtschaftsreformen wieder auf. Sie will den Zugang zu Leistungen der Arbeitslosenversicherung erschweren. Einen entsprechenden Plan stellten Premierminister Édouard Philippe und Arbeitsministerin Muriel Pénicaud am Dienstag vor. "Das gegenwärtige System funktioniert schlecht, weil die Regeln für Leistungen zu oft prekäre Jobs begünstigen anstatt dazu anzustiften, in feste Anstellungen zurückzukehren", sagte Philippe. Frankreichs führende Gewerkschaften reagierten "wütend" auf den Regierungsplan.

In den vergangenen Monaten waren die Reformprojekte von Präsident Emmanuel Macron ins Stocken geraten. Unter dem Eindruck der sogenannten Gelbwesten-Proteste, die sich auch gegen seine Wirtschaftspolitik richteten, hatte er stattdessen ein Ausgabenpaket im Umfang von 17 Milliarden Euro geschnürt, das vor allem Geringverdienern zugutekommt. Mit dem Umbau der Arbeitslosenversicherung besinnt sich die Regierung nun wieder auf ein Vorhaben, das neben einer - ebenfalls noch ausstehenden - Rentenreform das zentrale sozialpolitische Projekt Macrons ist. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte der wirtschaftsliberal geprägte Staatschef bereits Kündigungen erleichtert.

Macron hat das Ziel ausgegeben, die Arbeitslosenquote bis zum Ende seiner Amtszeit in drei Jahren auf sieben Prozent zu senken. Angesichts einer stabilen Konjunktur sinkt die Rate seit Jahren kontinuierlich; zurzeit liegt sie bei 8,4 Prozent (Frankreich ohne Überseegebiete). Bis 2025 hat Macron gar "Vollbeschäftigung" versprochen - also eine Erwerbslosenquote im niedrigen einstelligen Prozentbereich. In absoluten Zahlen ausgedrückt gelten heute 3,4 Millionen Menschen in Frankreich als Arbeitslose ohne jede Erwerbstätigkeit. Gleichzeitig sind Hunderttausende Stellen unbesetzt. Neben dem erklärten Ziel, Erwerbslose zur Arbeit zu drängen, will die Regierung auch Einsparungen durchsetzen: Bis 2022, so Fachministerin Pénicaud, soll Frankreichs hoch verschuldete Arbeitslosenkasse um 3,4 Milliarden entlastet werden.

Die Änderungen, die jetzt von der Regierung angekündigt und von November an schrittweise umgesetzt werden, gelten für französische Verhältnisse als radikal. Mit den Einschnitten der Hartz-Reformen vor 15 Jahren in Deutschland sind sie dennoch nicht vergleichbar.

Kritik entzündet sich vor allem daran, dass Erwerbstätige länger arbeiten sollen, um Anrecht auf Arbeitslosengeld zu erhalten. Mussten sie bisher vier Monate innerhalb einer Zeitspanne von 28 Monaten gearbeitet haben, müssen künftig sechs Monate Arbeit binnen 24 Monaten vorgewiesen werden. Einige Leistungsbezieher waren bislang auch bessergestellt als etwa unbefristet beschäftigte Teilzeitarbeiter, wenn sie nach kurzen, befristeten Jobs in die Arbeitslosenversicherung zurückkehrten. Das will die Regierung unterbinden.

Symbolstark sind die Kürzungen bei Gutverdienern. Ausgerechnet diese Kategorie Erwerbslose - theoretisch die am besten qualifizierten - bezieht heute in Frankreich am längsten Arbeitslosengeld. In der Spitze beträgt die Leistung 7700 Euro monatlich, und das bis zu zwei Jahre lang. In Zukunft wird diesen Arbeitslosen die Leistung ab dem siebten Monat um 30 Prozent gekürzt.

Für einige Gruppen bedeutet die Reform Verbesserungen: Beschäftigte, die von sich aus den Job gekündigt haben und eine Firma gründen wollen, erhalten Arbeitslosengeld. Auch Selbständige bekommen - in kleinem Umfang - Zugang zur Arbeitslosenkasse. Zudem will die Regierung etwa 1000 Stellen bei Frankreichs Arbeitsagentur Pôle emploi schaffen, um die Erwerbslosen besser zu betreuen.

Sowohl Arbeitergeber als auch Gewerkschafter kritisieren die Pläne

Sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeber zeigten sich am Dienstag verärgert. "Das ist eine zutiefst ungerechte Reform, die 100 Prozent der Arbeitslosen betrifft", sagte Laurent Berger, Chef der ansonsten Macron-freundlichen Gewerkschaft CFDT. Der kommunistisch geprägten CGT zufolge wird die Reform dazu führen, dass nur jeder dritte Erwerbslose Geld erhält; derzeit ist es jeder zweite. Die Gewerkschaften kündigten für 26. Juni erste Proteste gegen die Reform an.

Die Arbeitgeber wiederum kritisierten, dass sie dafür bestraft werden, wenn sie künftig Mitarbeiter mit befristeten Kettenverträgen beschäftigen - ein in Frankreich weit verbreitetes Phänomen, etwa in der Gastronomie oder in der Logistikbranche. Für diese Praxis wird künftig ein Malus auf die Sozialversicherungsbeiträge fällig. "Das wird unwirksam sein oder wird sogar Stellenschaffungen verhindern", sagte der Chef des Arbeitgeberverbands Medef, Geoffroy Roux de Bézieux.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4490815
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.06.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.