Frankreich:Am Abgrund

French President Emmanuel Macron visits a factory of manufacturer Valeo, in Etaples

Der Präsident trägt Maske. Am Sonntag wendet sich Emmanuel Macron in einer Ansprache an die Franzosen. 41 Prozent von ihnen leiden finanziell unter der Corona-Krise.

(Foto: Ludovic Marin/Reuters)

Die Corona-Krise erfasst Frankreichs Wirtschaft mit voller Wucht, weit stärker als Deutschland. Der Konjunkturkollaps macht die bisherigen Reformerfolge von Emmanuel Macron zunichte. Auch dem Präsidenten selbst droht nun der Absturz.

Von Leo Klimm, Paris

Unter allen Indikatoren zur Corona-Krise in Frankreich ist das Nottelefon des kleinen Vereins Apesa der erschütterndste. "Es sind alle Symptome von Depressionen dabei", sagt Céline Lucas. Die Psychologin kennt die Schicksale, die sich hinter den Zahlen zur Corona-Konjunktur verbergen. "Antriebslosigkeit, Panikattacken, Schlaflosigkeit, Weinkrämpfe. Es rufen auch Leute mit Suizidgedanken an." Lucas gehört zum Team von Apesa, das verzweifelten Unternehmern am Telefon erste Hilfe leistet. Seit Ende April wurde das Angebot mit Unterstützung des Pariser Wirtschaftsministeriums aufgestockt, eine Hotline ist sieben Tage pro Woche erreichbar.

Bisher gingen etwa 500 Notrufe ein. "Alles deutet darauf hin, dass ihre Häufigkeit weiter zunimmt", sagt Lucas. Es sind oft Händler und Handwerker, die weder ein noch aus wissen. Auch einen Aktienbroker hatte Lucas dran. "Manche wissen nach drei Monaten Corona nicht, wovon sie sich morgen ernähren sollen."

Solche Dramen spielen sich zu Tausenden ab, auch in Deutschland. Doch Frankreich setzt die Krise noch weit härter zu als dem deutschen Nachbarn. Es hat die Epidemie mit größter Mühe unter Kontrolle gebracht. Jetzt schaut es in den wirtschaftlichen Abgrund. Allein im Raum Paris, so die Erhebung der örtlichen Handelskammer, sind 40 Prozent der Betriebe in Gefahr.

Und der Abgrund könnte nicht nur viele Unternehmen verschlingen. Durch die Corona-Krise droht auch der Absturz eines politischen Erfolgs-Entrepreneurs: Emmanuel Macron.

Die Rezession dürfte viel stärker ausfallen als in Deutschland

Der jung-dynamische Präsident, der Frankreich aus langer Starre befreit hat, könnte zur tragischen Figur dieser Krise werden. Zwei wirtschaftspolitische Notlagen hat er schon überstanden: Die Revolte der Gelbwesten und die Rebellion gegen seine Rentenreform. Das Virus aber könnte sich als stärkerer Gegner erweisen. Macrons bisherige Reformerfolge hat es bereits zunichtegemacht. Je weiter die ökonomische Malaise nun ausgreift, desto größer ist sein Risiko mit Blick auf die Präsidentschaftswahl in zwei Jahren. Der in Frankreich prominente Ökonom Patrick Artus glaubt sogar, dass die Sache schon gelaufen ist: "Macron wird abgewählt", sagt der streitbare Chefvolkswirt der Investmentbank Natixis.

An diesem Sonntag richtet sich Macron in einer Ansprache an seine Landsleute. Er muss Mut zusprechen. Vielleicht auch sich selbst. Die Rezession erfasst Frankreich, den zentralen Partner Deutschlands in Europa, mit brutaler Wucht. Einer Schätzung der Banque de France zufolge bricht das Bruttoinlandsprodukt der zweitgrößten Volkswirtschaft der Euro-Zone im laufenden Jahresquartal um 20 Prozent ein. Die Industrieländerorganisation OECD rechnet für das Gesamtjahr 2020 mit einem Minus der französischen Wirtschaftsleistung von mehr als elf Prozent. Die Rezession dürfte damit etwa doppelt so schwer werden wie in Deutschland. Das Staatsdefizit soll Macrons Regierung zufolge von zuletzt drei auf den Rekordwert von 11,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen, die Gesamtverschuldung auf mehr als 120 Prozent hochschnellen. "Das sind schwindelerregende Zahlen", räumt Macrons Budgetminister Gérald Darmanin ein. Zahlen, hinter denen sich der Abgrund auftut.

Konzerne wie Renault und Air-France-KLM wurden schon vom Staat gerettet. Andere Firmen, darunter große Einzelhandelsketten und Autozulieferer, geraten gerade in den Pleitestrudel. Immer mehr Menschen sind von Armut bedroht. 41 Prozent der Franzosen spüren bereits jetzt eine Verschlechterung ihrer finanziellen Lage, die Hälfte sorgt sich um ihre berufliche Zukunft. Das ergab eine Umfrage des Instituts CSA. Zuerst trifft es, wie immer, die Prekären: Alleinerziehende, Arbeitslose, Studenten. Oder Kleinunternehmer wie jene, die bei der Apesa-Hotline von Céline Lucas anrufen.

Dass Frankreich besonders heftig leidet, hat einen Grund. Um einen Kollaps der Krankenhäuser zu vermeiden, sah sich Macron im März gezwungen, strikte Kontaktsperren zu verhängen. Selbst China, Quellland des Virus, erlebte keinen so strengen Lockdown, zeigt ein spezieller Indikator der Uni Oxford. Das offenbart sich etwa am Bau: "In Frankreich standen 75 Prozent der Baufirmen still, in Deutschland waren es etwa 20 Prozent", sagt Ökonom Artus.

Zwei Monate lang wurde die Wirtschaft des Landes in ein künstliches Koma versetzt. Damit zahlt sie den Preis für ein Gesundheitssystem, das schlecht auf eine Pandemie vorbereitet war, zu wenige Intensivbetten vorhält - und nun fast 30 000 Corona-Tote zählt. In Deutschland starben bisher weniger als 9000 Menschen an der Krankheit.

Seine ursprünglichen Ziele muss der Präsident verwerfen

Macron wurde vor drei Jahren gewählt. Seine Reformen zeigten seit Kurzem Wirkung: 2019 avancierte Frankreich bei den Auslandsinvestitionen gemäß einer einschlägigen Studie der Beratungsfirma EY zum beliebtesten Standort für Neuansiedlungen in Europa, vor Großbritannien und Deutschland. Zugleich besänftigte Macron die Gelbwesten, indem er die Kaufkraft unterer Einkommensschichten steigerte. Das französische Wachstum war 2019 stärker als das deutsche. Doch das ist schon wieder passé. Wegen Corona.

Auch Macrons wichtigsten Erfolg zerstört das Virus: Seit seinem Amtsantritt war die Arbeitslosenquote von zehn auf acht Prozent gesunken, selbst Frankreichs gebeutelte Industrie schuf neue Jobs. Vor dem Lockdown schien das Wahlversprechen erreichbar zu sein, die Quote bis 2022 auf sieben Prozent zu drücken. Jetzt aber musste die Regierung dieses Ziel aufgeben. Stattdessen geht sie davon aus, dass die Rate bald wieder zehn Prozent übersteigt. Geplante Einschnitte bei der Arbeitslosenversicherung werden da wohlweislich verschoben. Die Rentenreform, gegen die Hunderttausende den ganzen Winter lang angestreikt hatten, wird verwässert. Wenn sie überhaupt noch kommt. Der Staatschef und seine Regierung stemmen sich gegen die Not - mit begrenzten Mitteln.

"Was immer es kostet", werde er das Virus und die Krise bekämpfen, hatte der Präsident im März getönt. Aber die großzügigen Regeln zur Kurzarbeit führten schnell dazu, dass mehr als die Hälfte aller Beschäftigten privater Firmen vom Staat bezahlt wurden. Das ist nicht lange tragbar. Nun wurden die Regeln strenger. Insgesamt umfasst Macrons Corona-Hilfspaket für die französische Wirtschaft 460 Milliarden Euro. Der größte Teil davon sind allerdings nur Kreditbürgschaften - die gerade ausgiebig verteilt werden. Richtiggehende Konjunkturprogramme erhalten dagegen nur strategisch wichtige Branchen wie der Tourismus, die Autoindustrie oder der Flugzeugbau. Auf ein in Frankreich ehedem beliebtes Instrument verzichtet Macron weitgehend, bisher jedenfalls: Er setzt wenige Anreize für Verbraucher, mehr zu konsumieren. Eine Senkung der Mehrwertsteuer nach deutschem Vorbild wirke nicht gezielt genug, heißt es im Pariser Finanzministerium. Und sie sei schlicht zu teuer.

Es sähe Macron nicht ähnlich, sich in die Rolle der tragischen Figur zu fügen. Nach der ersten Ansprache am Sonntag will er im Juli eine Art Ruckrede halten, die den Weg aus dem Schlamassel weisen soll, lässt er wissen. Womöglich tauscht er auch den Premierminister aus. Spekuliert wird außerdem, dass Macron, dem spanischen Beispiel folgend, ein schmales Grundeinkommen für Prekäre einführt. An seinem insgesamt angebotsorientierten Kurs, der auf die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs zielt, soll sich jedoch nichts ändern. Zwischen zwei Übeln - der ungebremsten Erhöhung der Staatsschulden und der Anhebung der Steuern - wählt Macron in der Krise das erste. Im Pariser Finanzministerium hegt man die Hoffnung, der Corona-Schock sei nur "vorübergehend". Ökonom Patrick Artus teilt die Erwartung, dass ab Jahresende die Konjunktur wieder kräftig anzieht. Bis der Einbruch ausgeglichen sei, würden aber vier Jahre vergehen, sagt der Experte.

Eine andere Hoffnung Macrons heißt Europa. Wenigstens auf dieser Ebene läuft für ihn alles wie am Schnürchen: Nach langem Ringen konnte er Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Einstieg in eine gemeinsame Verschuldung der EU-Länder überreden. Die EU-Kommission plant auf dieser Grundlage ein mächtiges Konjunkturpaket - und Frankreich zählt auf dieses Paket. Ebenso wie auf den Aufkauf von Staatsanleihen, den die Europäische Zentralbank (EZB) kürzlich ausgeweitet hat. "Diese Verschuldungsmöglichkeiten wird Macron nutzen, so gut es geht", sagt Artus.

Die Unternehmer, die bei Psychologin Céline Lucas Hilfe suchen, haben es mit ihren Schulden nicht so leicht wie der Präsident. "Sie stehen vor der Pleite", sagt sie. "Die Firmen werden leiden. Die Menschen werden leiden." Drei Gratisstunden psychologische Beratung kann ihnen der Verein Apesa anbieten. Ansonsten empfiehlt Lucas die Einnahme von Johanniskraut. Das beruhigt.

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