Forum:Vor dem Durchbruch

Forum: Klaus Müller, 47, ist seit 2014 Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands (VZBV). Der studierte Volkswirt war von 2000 bis 2005 Landwirtschaftsminister des Landes Schleswig-Holstein.

Klaus Müller, 47, ist seit 2014 Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands (VZBV). Der studierte Volkswirt war von 2000 bis 2005 Landwirtschaftsminister des Landes Schleswig-Holstein.

(Foto: Gert Baumbach)

Verbraucherschutzministerin Barley bringt die Muster­feststellungs­klage auf den Weg. Nun hagelt es Kritik - zu unrecht. Ein Gastbeitrag.

Von Klaus Müller

Verbraucherschützer erleben täglich, wie Menschen abgezockt und ausgetrickst werden und wie schwer es für sie ist, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Verbraucherschutzgesetze können deshalb nicht gut genug sein. Aber wir sind auch Realisten. Wir wollen die Realität der Verbraucherinnen und Verbraucher verbessern, keine Traumschlösser bauen. Perfekte Modelle, die nur in der Theorie existieren, nützen weniger, als reale Gesetze, die vielleicht noch nicht perfekt sind, aber eine deutliche Verbesserung schaffen. Ein solches ist die Musterfeststellungsklage.

Zehn Jahre lang hat der Verbraucherzentrale Bundesverband für ein Gesetz gekämpft, das es Verbrauchern ermöglicht, ohne Kostenrisiko gemeinsam zu klagen, statt als verlassene Einzelkämpfer vor Gericht riesigen Rechtsabteilungen von Konzernen und ihren Anwaltsheeren gegenüber zu treten. Zehn Jahre lang war ein solches Gesetz nicht mehrheitsfähig. Jetzt hat Verbraucherschutzministerin Katarina Barley die Musterfeststellungsklage auf den Weg gebracht. Nun hagelt es Kritik. Das Gesetz sei nicht perfekt, müsse nachgebessert werden. Hinter einigen Kritikpunkten verbergen sich Eigeninteressen. Andere sind diskussionswürdig.

Der Dieselskandal führt derzeit vor Augen, wie beschwerlich und frustrierend der Einzelkämpfer-Weg für Geschädigte ist. Aber eines ist klar: Der Dieselskandal ist nicht der Fall, für den die Musterfeststellungsklage erdacht wurde. Eigentlich zielt diese Verbraucherklage oder "Einer-für -alle-Klage" auf Fälle, in denen viele Verbraucher auf die gleiche Art von einem Unternehmen geschädigt wurden und vor Gericht das Gleiche erreichen wollen. Ein Beispiel: Der Bundesgerichtshof hatte im Jahr 2014 entschieden, dass laufzeitunabhängige Kreditbearbeitungsgebühren in AGB unwirksam sind und Rückzahlungsforderungen betroffener Kunden noch im selben Jahr verjähren. Darauf folgte eine Verfahrensflut bei den zuständigen Amtsgerichten. Aus Sorge um die Verjährung klagten Tausende Verbraucher noch im Dezember 2014, und der Ombudsmann der Banken verzeichnete über 100 000 Schlichtungsanträge. Mit jeweils einer Musterfeststellungsklage pro beteiligter Bank hätte die Verjährung für alle betroffenen Verbraucher verhindert werden können.

Gegen die drohende Verjährung wird die Musterfeststellungsklage auch im VW-Skandal wirken. Denn das ist eine ihrer wichtigsten Errungenschaften: Sie hemmt die Verjährung, sobald die Klage erhoben wird. Das verschafft Verbrauchern Zeit und ist eine wichtige Verbesserung. Deswegen ist sie ein Meilenstein. Denn Unternehmen können nicht mehr wie in den vergangenen Jahrzehnten auf einen schnellen Verfall der Ansprüche hoffen und dies in ihr Handeln einkalkulieren. Wenn sich betroffene Verbraucher ins Klageregister eingetragen haben, ist auch für sie die Verjährung gestoppt, und zwar rückwirkend auf den Zeitpunkt der Klageerhebung. Schwierig wird es bei den VW-Fällen aber, weil die Verbraucher unterschiedliche Ziele verfolgen: Entschädigung, Ausgleich des Wertverfalls, Tausch gegen einen Neuwagen oder eine Garantie, dass das Software-Update keinen Nachteil bringt. Auch die Schadensummen variieren stark, je nach Kaufpreis, Alter, Ausstattung und Laufleistung des Wagens. Obwohl VW nicht der typische Fall der neuen Klage ist, kann sie hier Wichtiges leisten: Der Richter kann zum Beispiel urteilen, dass betrogen wurde und dadurch eine Schadenersatzpflicht entsteht.

Man sollte die öffentliche Wirkung einer solchen Klage nicht unterschätzen

Kritiker monieren, dass der Verbraucher damit keinen konkreten Schadenersatzanspruchstitel erhält. Das stimmt, muss aber kein Problem sein. In vielen Fällen sind nach einer gewonnenen Musterfeststellungsklage einfache Möglichkeiten denkbar, Verbrauchern zu ihrem Geld zu verhelfen. Das kann ein Schlichtungsverfahren sein oder auch ein Mahnverfahren, das der klagende Verband vorbereiten kann. So könnten schnell Tausende Mahnbriefe verschickt werden. Hier lohnt es sich, über technische Schnittstellen nachzudenken, um diesen Versand mehr oder weniger automatisiert ablaufen zu lassen.

Auch sollte man die öffentliche Wirkung nicht unterschätzen. Wer bei den VW-Klagen den Überblick behalten will, muss viel Zeit und Mühe aufwenden. Künftig konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf eine große Klage. Ist es unrealistisch anzunehmen, dass dies die Bereitschaft eines Unternehmens, die Menschen zu entschädigen, erhöhen wird?

Oft ist zu hören, die neue Klagemöglichkeit leiste einer "Amerikanisierung des deutschen Rechtssystems" Vorschub. Das ist falsch. Riesige Summen wie in den USA wird es nicht geben, weil das deutsche Recht keinen Strafschadenersatz kennt. Auch nicht mit der neuen Verbraucherklage. Unser Recht setzt darauf, dass allein der entstandene und individuell zu beziffernde Schaden ersetzt wird. Im Übrigen drängen schon jetzt Prozessfinanzierer auf den deutschen Markt. Wird Geld erstritten, bleiben bis zu 35 Prozent der gezahlten Summe beim Finanzierer. So bleibt der Verbraucher auch bei einem Sieg vor Gericht auf 35 Prozent seines Schadens sitzen. Klagt jedoch ein Verbraucherverband, der keinen Gewinn erzielen darf, geht das Geld zu 100 Prozent an die Geschädigten, eine verbraucherfreundliche Alternative.

Manchmal wird kritisiert, die Verbände hätten nicht genug Klageerfahrung. Mit der neuen Klage hat aber noch niemand gearbeitet. Die deutschen Verbraucherzentralen und ihr Bundesverband haben allein in den vergangenen fünf Jahren 797 Klagen geführt. 336 Verfahren gingen in die nächste Instanz, 108 bis zum BGH. Fünf Fälle wurden dem EuGH vorgelegt.

Es gibt die Kritik, die Klage sei zu langwierig und umständlich, sie schöpfe das Potenzial nicht aus. Wir können uns viele Weiterentwicklungen vorstellen. Als Verbraucherschützer ist unsere Fantasie nahezu unbegrenzt, Menschen noch besser, schneller und effizienter vor wirtschaftlichem Missbrauch, Fehlern und Abzocke zu schützen und dagegen zu verteidigen. Aber ist das ein Grund, gegen die Musterfeststellungsklage zu sein? Nein. Es ist ein Grund, sie so schnell wie möglich einzuführen, zu testen, evaluieren und verbessern.

Mit den derzeit unter dem Stichwort "New Deal for Consumers" diskutierten Plänen der EU-Kommission wird es dafür demnächst Gelegenheiten geben. Aber eines darf jetzt auf keinen Fall passieren: Es dürfen nicht weitere Jahre mit ergebnislosen Diskussionen vergeudet werden, in denen sich für die Menschen nichts verbessert. Wir dürfen Verbraucher nicht länger im Regen stehen lassen. In einer perfekten Welt könnten wir ihnen Sonnenschein sichern. Bis dahin geben wir ihnen den besten Schirm, der zu haben ist. Der heißt dieser Tage Musterfeststellungsklage.

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